Kriegsende hat die Menschen bewegt - und zwar buchstäblich
Die Regionen Sachsen, Schlesien und Nordböhmen liegen heute in drei Ländern, doch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verband sie eine Entwurzelung der Menschen, die als Folge von menschlichen Bewegungen zustande kam. Die Wanderausstellung "Nahe, ferne Heimat. 60 Jahre Kriegsende und Vertreibung" hat sich auch auf den Weg gemacht. Ihre erste Station ist die Stadtbibliothek in Zittau. Mehr über die Ausstellung und über die dort dargestellten menschlichen Schicksale erfahren Sie im folgenden Kultursalon von Bára Procházková:
Die Ausstellung stellt die Ereignisse dar, die die Menschen bewegt haben, und zwar buchstäblich. Es werden Schicksale von Menschen erzählt, die ihre Heimat verlassen mussten und ins Unbekannte getrieben wurden. Gegen Kriegsende wurden Arbeits- und Konzentrationslager aufgelöst und die Inhaftierten wurden auf Todesmärsche geschickt. Aus dem Sudetengebiet wurden Deutsche vertrieben und freigelassene Zwangsarbeiter suchten den Weg nach Hause. Nicht nur die Beweggründe, sondern auch die Richtungen der Menschenströme waren unterschiedlich, alle aber trafen sich in Sachsen. Ina Gamp, die Koordinatorin der Ausstellung und Mitarbeiterin der Brücke-Most-Stiftung in Dresden, beschreibt die damalige Situation:
"Was wir darstellen wollen, ist die Parallelität von verschiedenen Ereignissen, die sich am Ende des Krieges kumulieren, weil gerade hier in der Region so viel los war und alles gleichzeitig gelaufen ist."
Pavel Stransky hat dies selbst erlebt. Er wurde im April 1945 von Schwarzheide - 45 Kilometer nördlich von Dresden - in einen Todesmarsch nach Theresienstadt geschickt und schreibt darüber: "Wir sind vielen Deutschen begegnet, die in die andere Richtung gegangen sind. Aus dem Protektorat nach Deutschland. Aber jeder hatte seine eigenen Sorgen."
Die Ausstellung beleuchtet diese historischen Ereignisse von allen Seiten. Zum Beispiel Dresden: Die Bombardierung der sächsischen Hauptstadt hat der ganzen Region zweifellos eine sehr große Wunde zugefügt. Die Brücke-Most-Stiftung hat jedoch einen Perspektivwechsel unternommen, und zwar die Zerstörung Dresdens in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 als eine Rettung zu sehen - eine Rettung für viele Juden, die dank dem Chaos danach dem Transport in die Konzentrationslager entkommen sind. "Während die ganze Stadt weinte, jubelten wir", schreibt Henny Brenner. Denn für sie und ihre Familie war eine Deportation vorgesehen - für den 14. Februar. Bis zum Ende des Krieges hat sie sich dann mit ihrer Mutter in den Trümmern versteckt. Wie versteht die achtzigjährige Jüdin den Begriff der Heimat?
"Heimat? Ach, die hat man uns in der Nazizeit weggenommen. Ich bin kein Mensch, der viel von Heimat hält. Heimat ist für mich dort, wo es mir gut geht, wo man mich leben lässt, wie ich will, und nicht verfolgt, dort ist meine Heimat. Ich könnte genauso heimisch werden in einem anderen Land, aber wir haben es vorgezogen, in Deutschland zu bleiben. Warum sollten wir gehen, dann hätten wir das getan, was Hitler gewollt hätte, nämlich das Deutschland judenfrei werden soll. Nein, ich bleibe um zu sprechen. Ich habe das Gefühl, dass ich das den Opfern schuldig bin, weil ich am Leben geblieben bin. Ich habe die Verpflichtung, darüber zu reden."
Deshalb sollte es Henny Brenner zufolge mehr Ausstellungen wie diese geben, um jüngeren Leuten die Geschichte zu erklären. Die Brücke-Most-Stiftung möchte mit ihrer Arbeit eine stärkere Verwurzelung und Identifizierung der Menschen mit der Region, in der sie leben, erzielen, erklärt Ina Gamp. Die Ausstellung "Nahe, ferne Heimat" zeigt auch neue Aspekte der historischen Wahrnehmung auf, meint Ina Gamp:
"Ein wichtiger Erkenntnisprozess für mich war es zu sehen, dass in der Erinnerungskultur der deutschen Gesellschaft ein Aspekt nicht vorkommt, der aber sehr wichtig ist, wenn man über die Vertreibung redet. Nämlich der, dass die Vertreibung und Zwangsumsiedlung von Anfang an zum Kern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft gehört hat. Und nicht dass sie erst eine Erfindung des tschechoslowakischen oder des polnischen Staates nach dem Kriegsende waren."
Einer, der nach dem Kriegsende vertriebenen Deutschen aus Nordböhmen ist Alexius Klug, der bis heute seine starke Bindung zur Heimatregion aufrechterhalten hat. Er pflegt rege persönliche Kontakte und versucht, das kulturelle Erbe weiter zu tragen. Für die ehemaligen sudetendeutschen Gebiete sieht er aber eine Gefahr aufkommen:
"Was mich am meisten beschäftigt, ist, dass die Tschechen, die jetzt dort leben, sicher auch noch kein Heimatgefühl haben. Die kleineren Ortschaften sind zum Teil noch so, wie sie vor 60 Jahren gestanden haben, die Landschaft ist ziemlich zugewachsen, die Wiesen werden nicht mehr gepflegt. Ich habe ein bisschen die Befürchtung, dass, wenn die Leute sterben, die dort schon 60 Jahre leben, dass dieses Gebiet dann wieder umbevölkert wird, aber auf eine andere Art und Weise. Da brauchen keine vertrieben werden. Wenn es niemandem dort gefällt, dann zieht er irgendwo anders hin."
Zwei Deutsche - zwei Schicksale: Beide treffen sich in Sachsen, beide kommen in der Ausstellung zum Ausdruck. Alexius Klug erhält im Juli 1945 seinen Ausweisungsbefehl und wird aus Nordböhmen nach Sachsen transportiert. Für Ursula Waage war bis dahin die schlesische Stadt Breslau ihre Heimat. Sie blieb jedoch bis zum Frühjahr 1947, dann wird sie abgeschoben. Am 6. Mai, nach der Kapitulation, brach in Breslau ein Chaos aus. Ursula Waage und ihre Familie kannten die politischen Abmachungen nicht und wunderten sich, warum in "ihre" Stadt plötzlich so viele Polen gekommen sind. Dass sie dafür gehen müssen, das haben sie in dem Moment nicht geahnt, erinnert sich Ursula Waage. Nach Kriegsende hatte Ursula Waage bis zu ihrer Aussiedlung nach Sachsen auf dem Bau gearbeitet, der polnische Bauleiter nahm sie dann im Winter zu sich nach Hause:
"Da bin ich überhaupt erst mal in eine polnische Familie hineingewachsen und habe gemerkt, wie diese Menschen unter den Nazis gelitten haben. Und dann habe ich erst das alles begreifen können, wie furchtbar diese vielen Kriegsjahre für diese anderen Länder waren. Das war für mich eine gute Lehrzeit, auch wenn sie hart war. Und dann haben wir gemerkt, dass sie genauso wie wir sind. Warum haben wir dann einen Krieg geführt?"
Ursula Waage hat als Deutsche nach dem Kriegsende bei einer polnischen Familie gearbeitet und erst dort gelernt, den Krieg zu verstehen, Pavel Stransky traf auf seinem Weg - bei dem Todesmarsch von Schwarzheide nach Theresienstadt - vertriebene Deutsche, die in die andere Richtung gingen. Und Henny Brenner wurde an jenem Tag gerettet, an dem 35.000 Menschen sterben mussten - die menschlichen Schicksale waren es, die die Menschen bewegen.
Gerade diese menschlichen Schicksale sind zum Hauptmotiv der Ausstellung "Nahe, ferne Heimat. 60 Jahre Kriegsende und Vertreibung" geworden. Die Brücke-Most-Stiftung hat sich zum Ziel gemacht, diese Erlebnisse zu dokumentieren und in einen historischen Kontext zu setzen. Der Projektleiter, Daniel Kraft, erklärt die besondere Absicht der Brücke-Most-Stiftung bei der interaktiven Konzeption der Ausstellung:
"Wir gehen dorthin, wo sich Menschen für Bildung, für Lesen und für Informationen interessieren und bieten den Interessierten, jetzt in diesem Fall den Bibliotheksbesuchern, ein bestimmtes Informationsangebot an, eben so eine kleine Ausstellung, wo man einen Eindruck von dem Thema bekommt, und dann bieten wir mit dem Medienkoffer in der Bibliothek dem Leser die Möglichkeit, weiter an dem Thema dran zu bleiben, tiefer einzusteigen."
Die Buchtipps und der Medienkoffer sollen gerade den Bewohnern der Grenzregion die Thematik näher bringen. Die Wanderausstellung "Nahe, ferne Heimat" wird noch während des Jahres in mehreren sächsischen Städten zu sehen sein. Neben Zittau stehen noch Bautzen, Chemnitz, Dresden, Görlitz und Pirna auf der Liste. Dann soll sie Ausstellung in Tschechien gezeigt werden.