Erst eine Wohnung, dann ein neues Leben
In Tschechien fehlt immer noch ein Plan für den sozialen Wohnungsbau. Ein Modell könnten sogenannte Housing-First-Projekte bieten. Familien, die an den sozialen Rand geraten sind, sollen damit wieder Boden unter den Füßen bekommen. Mittlerweile haben zahlreiche Städte den Start entsprechender Programme angekündigt. In Brno / Brünn, dem eigentlichen Heimatort des Konzepts, droht dem Projekt nun jedoch das Aus.
„Ich habe hier ein Zimmer, das ist knapp über 20 Quadratmeter groß. Wir leben da drin zu viert. Außer mir noch meine elfjährige Tochter, mein dreijähriger Sohn und meine Freundin. Sie ist taubstumm, ich aber bin gesund.“
Die Familie ist kein Einzelfall, allein in der westböhmischen Großstadt Plzeň / Pilsen gibt es fast 30 vergleichbare Schicksale. Derzeit leben sie noch in Notunterkünften oder Obdachlosen-Asylen. Die Organisation Naděje will einigen von ihnen aber nun bessere Bedingungen bieten und hat Förderung für ein sogenanntes Housing-First-Projekt beantragt. Daniel Svoboda leitet die Zweigstelle von Naděje in Pilsen:
„Wir haben eine Förderung in Höhe von drei Millionen Kronen beantragt. Mit der Stadt ist abgesprochen, dass sie uns fünf Wohnungen zur Verfügung stellt. Dort wollen wir vor allem bedürftige Familien sozial betreuen. Das heißt, von der Förderung werden zudem Sozialarbeiter und weiteres Personal finanziert.“Das Ministerium für Arbeit und Soziales hat in diesem Jahr 150 Millionen Kronen (5,9 Millionen Euro) aus EU-Fonds für Housing-First-Projekte reserviert. Bedürftige Familien bekommen so in erster Linie ein Dach über den Kopf. Zusätzlich helfen ihnen Sozialarbeiter zurück in ein geregeltes Leben. Das Programm habe viele Vorteile, meint Daniel Svoboda von Naděje:
„Derzeit treten wir bei unseren Unterkünften gleichzeitig als Vermieter und Sozialbetreuer auf. Als Vermieter sind wir auch dafür verantwortlich, dass beispielsweise Schulden bei unseren Mietern eingetrieben werden. Bei Housing-First-Projekten ist das aber getrennt. Denn der Vermieter ist ein anderes Subjekt, während wir nur noch die soziale Seite erfüllen.“
Hilfe bei verschiedenen Problemen
Die Verteilung der Gelder läuft über die Stadtverwaltung von Pilsen. Sie stellt dazu auch einige der wenigen stadteigenen Wohnungen zu Verfügung. Die Begünstigten zahlen dabei eine übliche Miete für diese Gemeindewohnungen. Diese ist in der Regel niedriger als bei Wohnungen auf dem freien Markt.Mittlerweile haben rund ein Dutzend tschechischer Städte Interesse an sozialen Wohnprojekten angemeldet. Die Motivation ist jeweils verschieden. Im ostböhmischen Trutnov / Trautenau beispielsweise will die Caritas mit Housing First vor allem Familien mit Kindern unterstützen. Dazu bräuchte man rund fünf Millionen Kronen (195.000 Euro), erklärt der Leiter des Caritas-Ortsverbandes in Trutnov, Jiří Špelda:
„Wir konzentrieren uns auf Familien mit minderjährigen Kindern. Insgesamt sollen sieben Familien von uns gefördert werden, es kommen also rund 30 Personen raus aus der Wohnungsnot. Sie sollen eine feste Bleibe finden und sie auch längerfristig halten, wie auch jeder andere Mensch unter normalen Umständen. Für Leute am Rand der Gesellschaft ist das leider nicht selbstverständlich.“
Im westmährischen Jihlava / Iglau wiederum will man die Obdachlosenproblematik in den Griff bekommen. In der Stadt mit ihren knapp 51.000 Einwohnern leben nämlich mindestens 200 Menschen auf der Straße. Zudem wohnen rund 100 Familien in Notunterkünften. Daniel Škárka ist als Stadtrat von Jihlava für Soziales zuständig:„Zurzeit haben wir in unserer Stadt 20 Wohnungen für Menschen in akuten Notlagen. Dieser Wohnraum ist aber nicht betreut. Das bedeutet, dort gibt es nur technisches Personal, das natürlich keine sozialen Kompetenzen hat. Wir brauchen also Sozialarbeiter, die bei Bedarf zu den Familien kommen. Das ist dann die intensive Hilfe unsererseits.“
Insgesamt sind die 150 Millionen des Sozialministeriums für Housing-First-Projekte nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Schätzungen zufolge leben 83.000 Menschen hierzulande in sogenannter Wohn-Not. Sie können sich ein normales Dach über dem Kopf nicht mehr leisten und wohnen beispielsweise in Obdachlosenunterkünften. Die Gründe dafür sind verschieden, meist ist es Überschuldung oder Krankheit. Unter den Betroffenen sind über 20.000 Kinder. Die Tendenz ist steigend, denn der Wohnraummangel und die wachsenden Immobilienpreise machen immer mehr Menschen hierzulande zu schaffen. Ein nötiges Gesetz für den sozialen Wohnungsbau ist in Tschechien jedoch weiterhin nur Zukunftsmusik.
Ende eines Vorzeigeprojekts?
Das erste Housing-First-Projekt Tschechiens gab es in Brno / Brünn unter dem Namen Rapid Re-Housing. Es wurde 2016 ins Leben gerufen und sollte 50 bedürftigen Familien eine neue Perspektive geben. Das Programm stand unter der Schirmherrschaft des damaligen Ano-Bürgermeisters Petr Vokřál, federführend war unter anderem der damalige Stadtrat Martin Freund von der Wählerinitiative Žít Brno. Bei einem Happening erläuterte er den Zweck des Konzepts:„Wir müssen an die Menschen denken, die so leicht vergessen werden. Viele Brünner treffen sie meist gar nicht in ihrem normalen Umfeld. Doch sie sind unter uns, die Menschen am sozialen Rand der Gesellschaft. Das sind auch Kinder, die unter menschenunwürdigen Bedingungen leben. Das Schlimmste sind aber nicht die schimmligen Wände in den Räumen, in denen sie aufwachsen. Es ist die Hoffnungslosigkeit, die dort allgegenwärtig ist.“
Das Happening fand vor wenigen Wochen statt und war eine Demonstration für den Erhalt von Rapid Re-Housing. Rund 100 Menschen besetzten dabei den Brünner Magistrat. Das Sozialprogramm droht nämlich von der neuen Stadtregierung aus Bürgerdemokraten, Piraten, Sozialdemokraten und Christdemokraten eingestampft zu werden. Der Bürgerdemokrat Robert Kerndl ist stellvertretender Oberbürgermeister der Stadt:
„Die Stadt Brünn hat im Jahr rund 70 Wohnungen zur Verfügung. 30 weitere müssen wir für soziale Zwecke reservieren. Die Stadt hat also nicht so viele Wohnungen, weshalb wir in dieser Angelegenheit auch mit den Bürgermeistern der Stadtteile verhandeln müssen. Die müssen bereit sein, mit uns an solchen Projekten zusammenzuarbeiten. Wenn die aber nein sagen, dann wäre es irre von uns, eine Bewerbung für weitere Förderung abzuschicken. Denn die Bedingungen könnten wir ja nicht erfüllen.“Außerdem gebe es in Brünn auch noch andere soziale Probleme zu lösen, fügt Kerndl noch hinzu. Für Martin Freund sind das aber nur vorgeschobene Gründe:
„Die Stadt müsste für eine Laufzeit von zwei Jahren mindestens 80 Wohnungen zur Förderung anmelden. Aber das ist schon ein Kompromiss. Denn das ist die untere Grenze der Effektivität bei den rund 29.000 Wohnungen, über die die Stadt verfügt. Alles andere wäre peinlich.“
Tatsächlich ist das Projekt in Brünn sehr erfolgreich. Von den 50 Familien leben nach den zwei Jahren fast alle noch in ihren Wohnungen und sind einem geregelten Leben einen großen Schritt näher gekommen. Am Montag sollte die Stadtverwaltung entscheiden, wie es mit dem Projekt weitergeht. Man will es nämlich nur noch unterstützen, wenn der Staat sich daran beteiligt. Letztlich wurde die Abstimmung auf Herbst verschoben.