Opernkultur in Tschechien – Chefdirigent Andreas S. Weiser im Interview
Wie kann man die Oper attraktiv machen? Was versteht er unter der „intelligenten Inszenierung“ einer Oper? Und was charakterisiert die Arbeit mit einem Opernorchester? Darüber spricht Andreas Sebastian Weiser im folgenden Interview mit Radio Prag. Er ist seit dieser Spielzeit neuer Chefdirigent der Staatsoper Prag.
„Die Arbeit unterscheidet sich prinzipiell dadurch, dass die Opernorchester einfach immer auf der Hut sein müssen. Auf der Bühne kann immer irgendetwas schieflaufen. Unter anderem hat das Orchester eine enorme räumliche Distanz, die Sänger sind wahnsinnig weit weg, der Chor sogar manchmal hinter der Szene. Die Sänger singen alle auswendig, keiner hat Noten. Darüber hinaus müssen sie Schauspielen. All das sind Ablenkungen auch für die Sänger und das Risiko, dass irgendwann einer irgendwo zu früh oder zu spät einsetzt oder den Text vergisst, ist groß. Das ist auch ganz menschlich, dass einem so etwas mal unterläuft. Die Opernorchester sind dabei unglaublich schnell im Reagieren und haben viel Erfahrung damit. Bei Sinfonieorchestern findet man das eher weniger. Dort ist die Arbeit mehr im künstlerischen Detail verortet. Der Opernbetrieb ist auf den ersten Blick mehr auf die technische Zuverlässigkeit ausgerichtet. Mein Ziel ist es, sich durch diese Wand durchzuarbeiten, um dann doch wieder zur Musik zu kommen, um dann auch künstlerisch gestalten zu können. Aber das setzt erstmal eine enorme technische Absicherung voraus, und dieser Anspruch ist beim Opernbetrieb höher als beim Sinfoniebetrieb.“
Nach der Wende waren Sie lange Zeit Chefdirigent der Jenaer Philharmoniker, hier beim Tschechischen Rundfunkorchester zweiter Dirigent, und haben natürlich durch ihr Studium Erfahrungen in Prag gesammelt. Man kann also durchaus sagen, Sie kennen die Arbeitsweise der Musik in Deutschland, als auch die in Tschechien. Was würden Sie sagen, sind die Hauptunterschiede? Gibt es überhaupt Hauptunterschiede?
„Was die tschechischen Orchestermusiker verdienen, ist einfach nur traurig“
„In der Sache würde ich sagen wenig. Es gibt einen Unterschied, der einem sofort und sehr schmerzhaft ins Auge fällt: Das ist die soziale Sicherheit und die soziale Seite. Was die deutschen Musiker verdienen, und inzwischen ist es egal ob in West oder Ostdeutschland, reicht aus, um ‚ordentlich eine Familie zu ernähren‘. Aber was die tschechischen Orchestermusiker, einschließlich der anderen Orchester hier in Prag, verdienen, ist einfach nur traurig. Mit der Ausnahme der Tschechischen Philharmonie, weil sich das verändert hat, seit Jiří Bělohlávek hier Chef ist und sie eine neue Intendanz und neues Management haben. In Hradec Králové / Königgrätz, wo ich auch noch bin, gibt es Musiker, die im besten Falle an Musikschulen oder auch privat unterrichten können. Aber es gibt auch Musiker, die in Supermärkten als Verkäufer arbeiten. Das tut schon sehr weh, wenn Sie das sehen, denn der Musikerberuf ist ja nicht nur, dass Sie drei bis vier Stunden am Tag in der Probe sitzen und dann frei haben. Es wird erwartet, dass man die ‚freie Zeit‘ nutzt, um sich individuell vorzubereiten, also sein technisches Niveau durch regelmäßiges Üben aufrechterhält. Da ich eben weiß, dass die Musiker nachmittags an der Supermarktkasse sitzen müssen, um ihre Familie zu ernähren, kann ich sie am nächsten Tag gar nicht kritisieren, weil sie den Nachmittag nicht zum Üben genutzt haben, das geht dann einfach nicht. Das ist eine ganz bittere Situation. Aber mir ist vollkommen klar, dass die Musiker nicht die Einzigen sind, die absolut unterbezahlt sind. Wenn Sie ins Schulwesen gucken, oder ins staatliche Gesundheitswesen – das ist schon ziemlich bitter.“
Wirkt sich das auch direkt auf die Probenarbeit aus?
„In gewisser Weise ja. Denn die individuelle Vorbereitung ist schwerer zu leisten und die Leute sind auch eher ausgepowert, wenn sie zwei bis drei Jobs noch machen müssen. Es geht ja nicht nur um die technische Absicherung, sondern es geht auch darum, die Leute zu motivieren, Spaß an der Musik zu haben. Wenn die Musiker unter so einem sozialen Druck stehen, ist es für uns Dirigenten wahnsinnig schwierig, diese Konzentration auf die Musik zu lenken, denn sie müssen die reale Welt ein stückweit ausblenden können. Wenn sie immer die Knüppel zwischen die musikalischen Beine geworfen bekommen, ist das wahnsinnig schwer. Darüber hinaus muss ich sagen: Wenn es gelingt, gibt es noch einen Wettbewerbsnachteil für die tschechischen Musiker, aber das gilt für ganz Mittel-Ost-Europa, und das ist einfach die Qualität der Instrumente. Denn gute Instrumente sind einfach teuer, und hier ist das Geld dafür nicht da. Trotzdem ist das Ergebnis vergleichbar. Der Output kann überwiegend mit dem Westniveau mithalten, und das liegt an dem Potential der Leute. Die Musiker mit ihren überdurchschnittlichen Qualifikationen und Fähigkeiten gleichen den technischen und materiellen Unterschied aus. Das ist schon bewundernswert und wird leider viel zu selten wahrgenommen.“Das sagt tatsächlich auch etwas über die Qualität der Musik aus, die man dann mit solchen Leuten produzieren kann. Wenn wir uns mit der Thematik der klassischen Musik allgemein beschäftigen, dann wird zurzeit viel darüber gesprochen, dass die klassische Musik, darunter die Oper, für junge Leute an Attraktivität verloren hat. In Deutschland gibt es inzwischen immer mehr „alternative Konzertformate“, um neue Begegnungen mit der Musik zu schaffen. Könnten Sie sich sowas auch vorstellen oder beschäftigen Sie sich mit sowas auch hier in Prag?
„Unter intelligenter Inszenierung verstehe ich, dass die Musik die Inszenierung mitsteuert.“
„Auf jeden Fall. In Prag weiß ich es nur noch nicht. Da muss man erstmal sehen, was man alles verändern kann und was da möglich sein wird. Wir haben einen Teil unserer Opernaufführungen in Hudební divadlo Karlín. Das ist schon ein bisschen ein Experiment in dieser Richtung, da dieses Theater mehr mit Musicalaufführungen verbunden und auch so vom Publikum wahrgenommen wird. Ich hoffe natürlich, dass es uns gelingt, das klassische Publikum in Karlín auch für unsere Aufführungen zu interessieren. Das muss man jetzt eben sehen, wenn das anläuft. In Hradec Králové / Königgrätz haben wir neben unserem Festival für zeitgenössische Musik auch versucht, eine Konzertreihe an verschiedenen Spielstätten, nicht nur in unserem Saal, auf die Beine zu stellen. Um eben auch auf die Leute zuzugehen und rauszugehen. Wir haben zum Teil in der Universität oder Industriehallen gespielt. Entsprechend wurde das Programm dramaturgisch drauf abgestimmt. Das waren leider nur Projekte, die nicht langfristig laufen konnten. Vom Intendanten gab es andere Schwerpunkte, aber auch aus wirtschaftlichen Gründen. Da müsste man glaube ich länger dranbleiben, zwei bis drei Jahre, um zu sehen, wie das auch angenommen wird. Auch in Bezug auf Öffentlichkeitsarbeit müsste man dann entsprechend reagieren. Jetzt konkret mit der Oper: Ich glaube, da geht nur etwas über die inhaltliche Schiene, indem man versucht interessante Inszenierungen zu machen, damit meine ich nicht ‚Musiktheater‘ auf Teufel komm raus, ich weiß, dass das political incorrect ist. Dort haben die Regisseure von Musik keine Ahnung und benutzen diese nur als notwendiges Übel, weil die halt einer dazu geschrieben hat. Unter intelligenter Inszenierung verstehe ich, dass die Musik die Inszenierung mitsteuert. Das Libretto auch, klar, aber die Musik interpretiert ja das Libretto. Der Komponist hat ja nicht eine farbige Filmmusik dazugeschrieben. Wenn Sie sich Mozartopern angucken: Die ganzen psychologischen Feinheiten sind in der Musik. Wenn ein Regisseur kommt, der meint, die Thematik in eine andere Zeit stellen zu müssen oder eigene psychologische Probleme damit ventilieren zu müssen, dann läuft was schief. Es ist nur leider so, dass im Westen, in Deutschland und auch in Frankreich und Italien, was ich so mitbekomme, dieser Trend sehr verbreitet ist. Zu meinem Unverständnis wird das auch beim Publikum akzeptiert, das eben solche „Modernisierungen“ ganz großen Anklang finden. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das eine wirklich dauerhaft tragbare Konzeption ist. Ich hoffe ehrlich gesagt, dass es das nicht ist. Es muss nicht sein, Stücke übers Knie zu brechen oder soweit zu verfremden. Ich denke die Stücke sind so inhaltsgeladen, da können Sie Puccini, Verdi, Dvořák, Mozart und Komponisten aus jeder anderen Epoche nehmen. Da steckt so viel drin, das kann man nicht einfach übergehen.“
Also ein bisschen in die Richtung: Weg von den modernen Inszenierungen auf Teufel komm raus und sich zurückbesinnen auf die musikalischen Elemente in der Inszenierung?
„Das schließt sich ja nicht aus. Wir haben jetzt gerade eine fantastische ‚Elektra‘ Produktion an der Staatsoper, die ist eine halbe Spielzeit gelaufen und tourt jetzt um die Welt. Es handelt sich dabei um eine Kooperation mit Mannheim und San Francisco. Das war eine sehr intelligente Konzeption, eine Rahmenhandlung zu erfinden, die das Ganze in einer Art Antikenmuseum spielen lässt, und das war vom Bühnenbild her unglaublich clever gemacht. Das war richtig modern, aber eben nicht gegen die Musik. Das meine ich. Modern muss es sein, keine Frage. Aber es kann auch abstrakt sein, ohne einen korrekten zeitlichen Bezug zu haben. Mir fällt gerade ein, was schon in Stuttgart gelaufen ist: Ich muss Nabucco nicht in einer südamerikanischen Militärdiktatur spielen. Den Gedanken dieser Freiheit und Unterdrückung, auch bei Fidelio, den muss ich nicht so konkretisieren, dass er so weit weg vom Inhalt ist. Ich kann das auch anders machen, und vielleicht dann sogar in der Wirkung auf den Zuschauer noch stärker.“