„Es geht um wichtige Infrastrukturfragen“ – Politologe Handl zum Besuch von Merkel
Angela Merkel besucht Tschechien erstmals seit 2012 und insgesamt zum dritten Mal. Welche Bedeutung der Visite beizumessen ist, dazu mehr im Gespräch mit dem Politologen Vladimír Handl von der Prager Karlsuniversität.
„Ich glaube, der Besuch bestätigt die Normalität in den Beziehungen. Das heißt, wir haben ein sehr intensives Verhältnis miteinander. Zentral ist die Zusammenarbeit in allen Bereichen. Es werden wohl jetzt einige Themen angesprochen. Für Tschechien geht es um die Lösung einiger wichtiger Infrastrukturfragen, wie die Aufnahme der Eisenbahnkorridore Prag-Dresden und Prag-München in den Bundesverkehrswegeplan. Dazu kommt die Industrie 4.0, wo sich Chancen für tschechische Unternehmen und Forschungseinrichtungen entwickeln. Und dann besteht die große Frage, wie man mit dem Brexit umgehen soll, wie sich die EU weiterentwickeln soll. Das sind wohl die wichtigsten Themen. Fragen der Vergangenheit, die uns früher immer wieder beschäftigt haben, gehören nicht mehr zu den Themen. Auch das ist ein Ausdruck der neuen Normalität.“
Halten Sie denn den Zeitpunkt des Besuchs für wichtig, gerade wo in den vergangenen Monaten viel über die Flüchtlingspolitik diskutiert wurde und sich Differenzen offenbart haben in der Haltung von Berlin und Prag?
„Meiner Meinung nach hängt der Besuch nicht mit der Flüchtlingskrise zusammen. Vielmehr ist der Brexit der Grund und einige der Themen, die ich genannt habe. Es stimmt, dass unterschiedliche Ansichten der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik in der Frage der Flüchtlingskrise bestehen, und dieser Konflikt wird durch den Besuch jetzt nicht gelöst werden. Es geht vor allem um die Umverteilung der Flüchtlinge, nicht um die Problematik im Gesamten. Meistens sind in den Themen der Flüchtlingskrise die Tschechen und die Deutschen ähnlicher Auffassung: in Bezug auf das Schengen-Abkommen, auf die Grenzen und die Situation der Flüchtlinge in den Regionen, in denen sie nach der Flucht bleiben. Also die Türkei, der Libanon und weitere Staaten. Wirklich unterschiedliche Auffassung herrscht in der Frage der Umverteilung.“
Für viele tschechische Bürger scheint aber die deutsche Flüchtlingspolitik unverständlich zu sein. Können Sie das Unbehagen Ihrer Landsleute an der „Willkommenskultur“ verstehen?
„Also verstehen kann ich sie. Es gibt mehrere Gründe, warum die Tschechen die Willkommenskultur nicht gutheißen. In der Tschechischen Republik gibt es keine Erfahrungen mit Multikulturalismus und Multiethnizität. Die tschechischen Staatsbürger mit Migrationshintergrund machen etwa vier Prozent der gesamten Bevölkerung aus. In Deutschland sind es knapp unter 20 Prozent. Das ist ein klarer Unterschied. Des Weiteren haben die Menschen hier keine Erfahrung mit dem Islam. Das Einzige, was sie vom Islam sehen und hören, sind die Berichterstattungen über die Kämpfe gegen ISIS und die schrecklichen Gräueltaten der Islamisten. Das beherrscht aus das Thema Islam in den Medien. Darüber hinaus bringen und diskutieren die Medien immer wieder die Nichterfolge von Integrationsbemühungen in den Vororten von Paris, Brüssel, London und jetzt auch mehrmals Neukölln. Davon wird die Integrationsdiskussion dominiert und nicht von den Erfolgen selbst, wie beispielsweise in Neukölln. Außerdem fragen die Leute: Warum gibt es auf einmal Geld für die Flüchtlinge, die in der Mehrheit als Wirtschaftsflüchtlinge wahrgenommen werden, und nicht für unsere Pensionen, Schulen oder Lehrer? Aber am Wichtigsten für mich ist das Versäumnis der Politik: Die Politik hat das Thema den Populisten überlassen oder dazu beigetragen, dass die Themen populistisch wahrgenommen werden. Selbst Präsident Zeman und andere haben das Thema so angesprochen, dass sie eben diese populistischen Stimmen unterstützt haben. In Tschechien überwiegt leider die Meinung der deutschen Pegida.“