Gedichte-Jukebox, Strohballenrollen und eine Lesung – deutsch-tschechische Kultur in Berlin

Foto: A. Gründler

In den nächsten Wochen locken Veranstaltungen mit Tschechien-Bezug in der Kulturhauptstadt Berlin. Für jeden könnte etwas dabei sein. Böhmen liegt nicht am Meer! Mit dieser Aussage wird sich eine Lesung ausgiebig beschäftigen. Des Weiteren wird ein lustiges tschechisch-deutsches Freundschaftsfest veranstaltet, auf dem Groß und Klein sich so richtig austoben können. Und Poesieliebhaber kriegen vor der Tschechischen Botschaft eine kleine Überraschung (und anderswo) zu hören.

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„Böhmen nicht am Meer“, so lautet der Titel des neuen Buches von Jenny Schon. Seit Shakespeares Zeiten bestand der Irrglaube, Böhmen liege am Meer. Diesem Missverständnis geht die Autorin nach und bringt dem Unwissenden noch einiges bei. Doch woher kam ihr eigenes Interesse an Böhmen?

„Ich bin als ganz junger Mensch früh von meinen Eltern ausgezogen und nach West-Berlin gegangen. Dort wollte ich arbeiten und Sinologie studieren. In dieser Zeit hatte ich gar keinen Bezug mehr zu meinen böhmischen Wurzeln. Dann wurde ich 50 Jahre alt und sagte zu meiner Mutter: ‚Ich fahre jetzt einfach nach Istanbul!‘ Daraufhin fragte sie mich, warum ich denn nach Istanbul will. Ich solle doch lieber in meine Heimat fahren, die jetzt befreit ist. Als Linke und als Maoistin höre ich befreite Heimat und denke mir: ‚Donnerschlag! Ich komme aus einer Heimat, die befreit ist.‘“

Gesagt, getan: Jenny Schon betrat nach der Vertreibung ihrer Familie aus Böhmen nach dem Zweiten Weltkrieg das erste Mal nach einem halben Jahrhundert wieder tschechischen Boden. Dort entdeckte sie ihre eigenen Spuren. Gleichzeitig wurde sie sich auch der Unwissenheit vieler anderer bewusst. Obwohl Böhmen in der Mitte Europas liegt, kennen viele Menschen in Deutschland die Gegend gar nicht. Dem widmet sich Jenny Schon nun in ihrem neuen Buch. Sie fasst Berichte über Böhmen von Dichtern, Musikern und Freiheitskämpfern zusammen – wie beispielsweise von Josef Mühlberger, Fritz Rieger und Eleonore Prochaska. Was hat es aber in ihren Roman mit Theodor Fontane auf sich?

„Theodor Fontane ist nicht nur ein Dichter aus Berlin-Brandenburg. Er ist ein Mann von Welt, aber von Böhmen hatte er keine Ahnung. Während des Krieges von 1866 las er in einer Zeitung über den Verrat von Trautenau. Dort sollten preußische Soldaten von den Bürgern überfallen worden sein. Dem wollte er aus Neugier nachgehen. Er war schon vorher als Wanderer in der Mark Brandenburg unterwegs. Später in seinem Reiseband aus Böhmen wundert er sich, warum die Kinder dort alle so gut Deutsch sprechen können. Er hatte überhaupt nicht gewusst, dass in Böhmen auch deutschsprechende Menschen lebten.“

Neben den Nachforschungen, Anekdoten und Erzählungen wird in dem Buch die Geschichte eines Berliner Jungens erzählt. Horst Schulze wird im Zweiten Weltkrieg zusammen mit anderen Kindern von Berlin nach Böhmen verschickt. Nach dem Krieg versucht er mit seinen jungen Kameraden, wieder nach Berlin zurückzukommen, und muss sich durch viele Widrigkeiten kämpfen.

Aus ihrem facettenreichen Buch liest Jenny Schon am 9. September in dem Antiquariat Primobuch, im Berliner Stadtteil Steglitz vor. Dazu werden in den Pausen selbstgemachte böhmische Buchteln gereicht. Währenddessen wird Michael Schneider auf seinem Cello einige Sonaten von Bach spielen.

„Popráci“ – Das Rixdorfer Strohballenrollen

Foto: A. Gründler
Im Jahr 1737 fand erstmalig ein Strohballenrollen in Rixdorf statt. Dabei traten böhmische Kolonisten und deutsche Einwohner gegeneinander an und maßen ihre Kräfte. Als Rixdorf 1912 in Neukölln umbenannt wurde, verbot Kaiser Wilhelm II. das Strohballenrollen. Seit 2008 wird nun wieder an fast vergessene Traditionen angeknüpft. Norbert Kleemann ist Mitorganisator und Leiter des Vereins Traumpfad. Im Interview berichtet er über das Festtagsprogramm des Popráci:

„Herr Kleemann, wie sind Sie zusammen mit dem Traumpfad e.V. auf die Idee gekommen alte Tradition wieder aufleben zu lassen?

„Die Wiederbelebung des Strohballenrollens geht zurück in die Zeit von Jára Cimrman. Das ist eine tschechische Kunstfigur aus dem Jahr 1966, die 2005 zum Tschechen des Jahres gewählt wurde. Wir wollten ein Dorffest in einer Großstadt durchführen und sind dann auf die Idee des Strohballenrollens gestoßen. Das wollten wir dann noch mit der Geschichte der böhmischen Einwanderer aus dem 18. Jahrhundert in Rixdorf verbinden.“

Gibt es noch andere Dinge, die an die ehemaligen Bewohner aus Böhmen erinnern?

Foto: A. Gründler
„Es sind immer noch die Unterschiede zwischen Deutsch- und Böhmisch-Rixdorf sichtbar. Dort gibt es beispielsweise eine Kirche mit einem eigenen Friedhof sowie ein Museum. Sehr viel weist auf die Geschichte der Böhmen hin. Hier leben sogar noch vier Familien aus dieser Zeit in sechster bis achter Generation.“

Kommen auch viele Besucher aus Tschechien, um das Popráci zu besuchen, oder sind es hauptsächlich Deutsche?

„Popráci, das Rixdorfer Strohballenrollen, ist das größte deutsch-tschechische Freundschaftsfest in Berlin. Seit 2009 führt auch unserer Partnerstadt Ústí nad Orlicí das Fest durch. Sie nennen es dort rolování, und die Siegermannschaft kommt dann immer Anfang September nach Rixdorf. Seit zwei Jahren melden sich noch drei weitere tschechische Mannschaften aus anderen Städten an.“

Abgesehen von dem Strohballenrennen: Worauf kann sich der Besucher noch freuen?

Foto: A. Gründler
„Wir nennen es nicht Strohballenrennen, sondern Strohballenrollen. Das ist etwas ganz Besonderes, und der Fokus wird nicht auf das Rennen gesetzt. Wir haben mehrere Elemente in den Wettkampf eingebaut. Die Mannschaften tragen Kostüme. Es geht um Eleganz und um das Miteinander. Das Rollen stellt das Zentrum unseres Festes dar. Dann gibt es eine große Bühne, auf der drei Bands auftreten. Dieses Jahr haben wir auch wieder eine Musikgruppe aus Tschechien, die nennt sich Band a SKA. Sie werden überwiegend Ska-Musik spielen. Ein Höhepunkt wird für mich das Auslegen von Stroh auf der Richardstraße sein. Das wird den Stadtkindern zur Verfügung gestellt, um mit Strohballen spielen zu können. Ein weiteres Highlight wird eine Ausstellung zum Thema ‚Flucht und Flüchtlinge damals und heute‘ sein. Wir möchten eine Brücke schlagen zwischen den Exulanten aus dem 18. Jahrhundert und den heutigen Flüchtlingen aus Syrien im Jahre 2016.“

Gerollt wird dieses Jahr am 10. September am Richardplatz in Rixdorf/Neukölln.

Ein Poesie-Periskop zieht durch die Welt

Poesiomat  (Foto: TschechischesZentrum Berlin)
Die Geschichte des Poesiomats hat seinen Ursprung in Prag. Diese erste Gedichte-Jukebox hat der Kulturaktivist Ondřej Kobza auf dem Náměstí Míru / Friedensplatz aufgebaut. Diesen Sommer wurde ein Poesiomat nun auch in Berlin aufgestellt. Christiane Lange, die stellvertretende Leiterin der Literaturwerkstatt Berlin, gibt einen Einblick:

„Der Poesiomat sieht aus wie ein Periskop von einem U-Boot. Dann kommen aus der Erde durch dieses Periskop die Stimmen der Dichter. Der Gedanke ist doch sehr schön, dass unter dem Pflaster nicht der Strand liegt, sondern die Lyrik. Sie bietet damit auch das, was Gedichte können. Sie können Musik machen. Man muss sie nicht lesen, man kann sie auch hören. Das kann der Poesiomat. Dies wiederum ist eine schöne Störung im alltäglichen Ablauf. Passanten kommen an diesem Periskop vorbei und denken sich: ‚Was soll das denn sein?‘ Dann geht man dorthin, schaut sich das an und drückt einen der Knöpfe. Schließlich können die Passanten dann die Gedichte am U-Bahnhof Mohrenstraße hören.“

Ausgewählt wurden zwei zeitgenössische Dichter aus Tschechien. Das sind Pavel Novotný und Kateřina Rudčenková. Ferner erhielten 18 Dichter aus dem deutschsprachigen Raum die Möglichkeit, ihre Poesie dort zu veröffentlichen. Dabei wurden die Gedichte im Poesiomat ausschließlich von den Autoren selber eingesprochen.

Bis 9. September können Freunde der Lyrik den Poesiomaten vor dem Gebäude der Tschechischen Botschaft ausprobieren. Danach wird die Jukebox im Hof der Kulturbrauerei aufgestellt. Denn am 17. September steigt dort die Feier zum 25. Geburtstag der Literaturwerkstatt Berlin. Da darf der Poesiomat sicherlich nicht fehlen. Wohin das Gedichte-Periskop danach gebracht wird, ist ungewiss. Fest steht, der Poesiomat wird nicht lange an einem Ort verweilen.

Autor: Juliane Bloch
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