Lufthoheit auf der Kleinseite: Der Glockenturm St. Nikolaus
Prag hat einen Pulverturm, Rathaustürme, Brückentürme und sogar einen eigenen Eiffelturm. Der Glockenturm von St. Nikolaus (Sv. Mikuláše) auf der Kleinseite steht fast ein wenig im Abseits. Zu Unrecht, denn der Aufstieg ist eine Zeitreise. Sie beginnt mit dem Aufschwung des Jesuitenordens im Hochbarock und findet ihren bizarren Höhepunkt im Kommunismus, als der Turm der Staatssicherheit als Überwachungsstation diente.
„Die Geschichte dieses Bauwerks ist ganz eigenartig. Mitte des 17. Jahrhunderts kamen die Jesuiten nach Prag. Wohin sie auch kamen, wollten sie prunkvolle Bauten errichten. Mitten auf dem Hauptplatz einer mittelalterlichen Stadt etwas zu bauen, das hätten sie 100 Jahre früher nicht gewagt. Nun aber waren sie schon in der Position, in der sie es sich erlauben konnten. Hier an dieser Stelle stand zuvor bereits ein Glockenturm, der zu einer älteren Kirche gehörte. Das alles rissen die Jesuiten nieder und begannen mit dem Bau des Professhauses, der Kirche und schließlich auch dieses Turms, eines städtischen Glockenturms, als Ersatz für den zerstörten.“
100 Jahre Streit um den Turm
Die Jesuiten beanspruchten aber auch den neuen Glockenturm für sich und ihren kirchlichen Baukomplex. Was folgte, war ein fast 100 Jahre währender Rechtsstreit mit der „Kleineren Stadt Prag“, die ihrerseits einen Türmer zum Feuerwachdienst bestellen wollte. 1691 hatten die Jesuiten den Bau des vierseitigen Professhauses abgeschlossen, die Nikolauskirche entstand in den Jahren 1702 bis 1751.„Der Bau des Glockenturms begann erst, als die Kirche schon relativ weit vorangeschritten war, zu Beginn der 1730er Jahre. Als der Turm 1755 fertig war, bedeutete das noch nicht das Ende der Auseinandersetzung. Die Jesuiten wollten dem städtischen Bediensteten den Zugang verwehren. Man konnte nur in das Stockwerk mit dem Glockengeläut. Weiter nach oben, zum Umgang, wo der Türmer seinen Dienst versah, gab es nur einen Zugang über das Professhaus. Es war eine absurde Situation. Selbstverständlich verloren die Jesuiten den Prozess, und diese vertikale Verbindung mussten sie so gestalten, dass der Türmer von ganz unten bis nach oben kam. Das war sogar in den Landtafeln festgeschrieben, so hieß damals der Kataster.“
Als Resultat des jahrzehntelangen Rechtsstreits hat der Glockenturm nicht eine, sondern zwei Türmerwohnungen. In den spartanischen Kammern soll nun bald eine Ausstellung einziehen. Der Alltag und die Aufgaben der Feuer- und Nachtwächter stehen dabei im Mittelpunkt, erklärt Karel Kučera:Türmer klagten über Kälte
„Der Turm gibt eigentlich selbst Auskunft über seine Funktionsweise. Hier auf dem Boden sieht man zum Beispiel einen viereckigen Abdruck. Dort stand auf einer Steinplatte der Ofen. Anhand solcher Details können wir rekonstruieren, wie hier gewohnt wurde. Es war wohl zumeist ein sehr ruhiger Dienst, denn die Türmer beschwerten sich hauptsächlich über die Kälte. Die ursprünglichen Baupläne haben sich leider nicht erhalten. Das heißt, wir mussten wirklich in den Archiven nach Dokumenten suchen und dann den Turm als solchen selbst erforschen.“
Laut Karel Kučera wurde zwar viel geschrieben über die Prager Türme. Dennoch ist die Forschung nicht so weit, wie die Berge an Literatur glauben machen. Häufig transportiert sie die immer gleichen Mythen. Zum Beispiel, was die Baumeister von Kirche und Turm betrifft.„Geplant wurde der Bau von Christoph Dientzenhofer, dem bedeutenden Baumeister in Böhmen. Sein Sohn Kilian Ignaz hat das Projekt dann ganz wesentlich abgewandelt. Er starb allerdings vor der Fertigstellung. Oder besser gesagt: Baulich war der Turm fast abgeschlossen, aber sein Schwiegersohn Anselmo Lurago hat noch einige Korrekturen vorgenommen. Ihm wurde von Forschern oft eine viel größere Rolle zugeschrieben, vor allem in Bezug auf die Ausstattung. Heute wissen wir aber, dass das nicht stimmt. Lurano hat vielleicht ein paar einzelne Plastiken ergänzt, aber seinen Hauptcharakter verdankt der Turm Kilian Ignaz Dientzenhofer – und nicht Lurago.“
Zwei Jahre nach der Fertigstellung wurde das Gebäude bei der Belagerung Prags durch die Preußen leicht beschädigt. Nach den bewegten Anfangszeiten war St. Nikolaus im 19. Jahrhundert mehr Ruhe vergönnt. Der Türmer meldete von seinem Büro – in dem heute Postkarten verkauft werden – Hochwasser und Feuer, läutete die Glocken und kümmerte sich um das Uhrwerk. 1897 endete die Ära als Feuerwachturm. 1925 verursachte ein unachtsamer Handwerker in der Etage mit dem Uhrwerk ein Feuer. Es verlief glimpflich, nur ein paar schwarze Balken zeugen bis heute davon.Machtwechsel auf dem Glockenturm
„Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde es wieder dramatisch. Während des Ersten Weltkrieges kam eine von ursprünglich drei Glocken abhanden, wahrscheinlich wurde sie für Munition eingeschmolzen. Wann die zweite Glocke verschwand, wissen wir nicht – vermutlich im Zweiten Weltkrieg. Zum Ende des Krieges kam es hier während des Prager Aufstands zu dramatischen Ereignissen. Am Fuße des Turms hatte nämlich das deutsche Kommando für diesen Stadtteil seinen Sitz. Hier oben hatten sie natürlich einen Posten stationiert. Die Karmelitská-Straße gleich hier im Süden wurde durch eine Barrikade in eine deutsche und eine aufständische Zone geteilt. Gegenüber, im heutigen Museum der Musik, hatten die tschechischen Aufständischen ihr Quartier. Sie konnten einander in die Augen sehen. Die Barrikade wurde berühmt, denn es gibt Filmaufnahmen von General Toussaint, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht in Prag. Von hier ging er weg, überstieg die Barrikaden und ging zum Hauptquartier der Aufständischen, um die Kapitulation zu unterschreiben.“ Damit stimmten die deutschen Besatzer dem Rückzug aus Prag zu. Zwei Tage später traf die Rote Armee in der Stadt ein. Als nächstes später reklamierten die neuen Machthaber der Tschechoslowakei den Turm für sich. Weil sich rund um St. Nikolaus die westlichen Botschaften gruppierten, observierte die kommunistische Staatssicherheit seit Beginn der 1960er Jahre die Umgebung.„Von hier aus sieht man die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Dann haben wir hier die amerikanische Botschaft mit dem großen Garten und dem Sommerschlösschen. Auf der anderen Seite, direkt unter der Burg war die britische Botschaft, und dann gab es noch eine weitere, in der Mostecká-Straße Richtung Karlsbrücke. Das war die Botschaft von Titos Jugoslawien, die heutige serbische Botschaft. Das heißt, auch sie wurde von der tschechoslowakischen Staatssicherheit, dem SNB überwacht.“
Informationen liefen im Turm zusammen
Die Spitzel der Staatssicherheit saßen in der Spitze von St. Nikolaus – der Deckname für das Observatorium lautete Kajka. Wo heute eine knarrende Treppe ganz nach oben führt, war es damals nur eine ausklappbare Leiter.„Das hier war der zentrale Stützpunkt, der die Verfolgung koordiniert hat. Angenommen, ein Diplomat verließ die deutsche Botschaft. Dann stand gegenüber ein Spitzel, der das hierher gemeldet hat. Und der Posten hier hat dann wiederum festgelegt, wer ihn weiter bis wohin verfolgen wird. Alle Informationen liefen hier zusammen. Und wenn der Diplomat dann nach rechts in die Karmelitská-Straße abgebogen ist, dann gaben das die Offizier weiter, und der Observierte wurde von einem anderen weiter verfolgt.“
Der Stützpunkt Kajka war rund um die Uhr im Schichtdienst besetzt. Nach der Auflösung 1990 wurde die Inneneinrichtung abtransportiert – die vertäfelte Verschalung mit U-Boot-artigen Gucklöchern vermittelt dennoch die beklemmende Atmosphäre einer Spähstation. Erhalten geblieben ist auch das Pissoir in einer kleinen Nebenkammer. Das Abwasser wurde einfach in die Dachrinne gekippt. Etliche, aber nicht alle Akten aus der jüngeren Zeit haben sich erhalten, sagt Karel Kučera:„Wir wissen zum Beispiel, dass hier in den 1960er und 1970er Jahren ein Paar wohnte, das den wahren Zweck dieses Turms verschleiern sollte. Sie waren offiziell so eine Art Brandschutzmitarbeiter bei der Feuerwehr und sollten indirekt mit der Bewachung der Stadt vor Feuer fortfahren. Tatsächlich war das Ganze aber nur zur Täuschung gedacht.“
Wer es bis in die Spitze von St. Nikolaus geschafft hat, wundert sich nicht, dass sich die Machthaber im 20. Jahrhundert die Aussicht zu Nutze machten. Seit der Samtenen Revolution gehört der städtische Turm St. Nikolaus nun den Touristen.
Der Turm St. Nikolaus kann bis Ende September täglich von 10 bis 22 Uhr besichtigt werden, im Oktober bis 20 Uhr, im Winter bis 18 Uhr. Der Eintritt kostet Eintritt kostet 120 Kronen. Zu Beginn nächsten Jahres eröffnet die Ausstellung zur Geschichte des Turms.