Tod an der Grenze: Der Fall Hartmut Tautz und die Ahndung kommunistischer Verbrechen
Am 9. August 1986 starb Hartmut Tautz. Der 18-jährige DDR-Bürger wurde bei Bratislava von Wachhunden zerfleischt, als er über die Tschechoslowakei in den Westen fliehen wollte. An sein Schicksal erinnert nun eine Installation in Prag, und sie verweist zugleich auf Hunderte Flüchtlinge, die bis 1989 an der tschechoslowakischen Grenze ihr Leben ließen. Hinter der Aktion steht die Plattform „Gedenken und Gewissen“. Sie fordert die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen vor einem internationalen Gerichtshof – denn auf tschechischer Seite ist in den vergangenen Jahren nichts passiert.
„Für den Betrachter ist das auf den ersten Blick vielleicht drastisch. Aber es basiert auf einer tatsächlichen Begebenheit. Das ist wirklich passiert und war eigentlich noch viel schlimmer. Im Jahr 1986 wurde der 18-jährige Ostdeutsche Hartmut Tautz 20 Meter von der österreichisch-tschechoslowakischen Grenze von Hunden des tschechoslowakischen, kommunistischen Grenzschutzes wirklich übel zugerichtet. Die Hunde haben ihn skalpiert und überall am Körper gebissen. Er starb an den Folgen der massiven Blutungen und des Schocks.“
„Eigenständig attackierende Hunde“ – so hießen die Tiere, die dazu ausgebildet wurden, die sogenannten Grenzverletzer um jeden Preis zurückzuhalten. Selbst die Wachsoldaten waren von den vierbeinigen Kampfmaschinen überfordert, sagt Neela Winkelmann. Nach der Attacke leisteten die Soldaten keine erste Hilfe, sondern verhörten den Schwerverletzten Hartmut Tautz. Die medizinische Behandlung kam zu spät. „Rekonstruktion als Tragödie und Possenspiel“ heißt nun das Werk der Künstlergruppe „Pode Bal“, das den Tod des Magdeburgers nachstellt. Zuvor war es bereits andernorts zu sehen, sagt Neela Winkelmann:„Wir haben diese Skulptur am 27. Mai dieses Jahres zusammen mit den Künstlern in Brüssel präsentiert, weil niemand jemals für dieses Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurde. Der Junge war ein wehrloser Flüchtling, der in die Freiheit fliehen wollte. Er wollte in den Westen. Damals war es schwierig, die innerdeutsche Grenze zu passieren. Viele Ostdeutsche haben es deshalb über die Tschechoslowakei versucht. Sowohl die zwei Grenzer als auch die gesamte Befehlskette der Vorgesetzten bis hinauf zur Führungsetage der kommunistischen Tschechoslowakei ist praktisch für diese Tötung verantwortlich – und standen niemals vor Gericht.“ Hartmut Tautz, der heute 48 Jahre alt wäre, war ein Opfer von vielen. Das Ziel der Plattform „Gedenken und Gewissen“ ist die gesamteuropäische Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen. Dem Verbund haben sich seit der Gründung 2011 insgesamt 48 Regierungsinstitutionen, NGOs und Opferverbände aus 18 Ländern angeschlossen.Die Verantwortlichen saßen ganz oben
In einem Pilotprojekt wurden in den vergangenen Monaten die Tötungen entlang des Eisernen Vorhangs in der ehemaligen Tschechoslowakei untersucht. Über 320 Opfer waren es laut der Archivrecherchen:
„Wir konnten durch unsere Recherchen beweisen, dass das Politbüro der kommunistischen Partei tatsächlich über das Grenzregime entschieden hat. Und zwar nicht nur im Allgemeinen, dass es eine streng bewachte Grenze geben muss, sondern wie sie auszusehen hat, welche Wehrdienstpflichtige an die Grenze berufen werden, wie sie untergebracht werden, was sie für Sozialdienstleistungen bekommen. Und nicht nur das: Das Politbüro hat auch genaue Berichte über die Vorgänge an der Grenze bekommen. Das heißt, sie wurden über den Tod der Flüchtlinge unterrichtet.“
Nicht die kleinen Fische am Ende der Befehlskette stehen also im Fokus, sondern die hohen Funktionäre auf der anderen Seite, die nie belangt wurden. Nach den Ermittlungen von „Gedenken und Gewissen“ sind mindestens 26 von ihnen noch am Leben. Drei von ihnen standen ganz oben: Milouš Jakeš, bis 1989 Chef der kommunistischen Partei, Lubomír Štrougal, tschechoslowakischer Ministerpräsident bis 1988, und Peter Colotka, slowakischer Ministerpräsident bis 1988. Während Historiker die Vorgänge an der 920 Kilometer langen Grenze inzwischen sehr gut dokumentiert haben, bleibt die Justiz in Tschechien untätig:„Wir haben in den letzten 25 Jahren auf diese Gerechtigkeit gewartet, und sie kam nicht. In der Tschechischen Republik wurden etwa acht oder zehn Personen für die Tötungen vor Gericht gestellt. Dabei wurden vier verurteilt, in der Slowakei kein einziger.“
Kein Schnitt in der Justiz
Anders als beispielsweise in Polen, den baltischen Ländern oder in Ungarn gelten die Taten der Kommunisten in Tschechien nicht als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Zwar wurde die kommunistische Partei, bei der alle Fäden zusammenliefen, 1993 als kriminelle Vereinigung eingestuft. Die Taten ihrer Mitglieder blieben trotzdem zum größten Teil ungesühnt. Die strafrechtliche Verfolgung sei auch deshalb gescheitert, weil es keinen Schnitt in der Justiz gab:„Wir haben nach 1989 praktisch alle Richter vom alten Regime, die das wollten, in die neue Justiz übernommen. Es fand nur eine extrem symbolhafte und oberflächliche Überprüfung der Richter statt. Das wurde auch von der Politik so manipuliert, dass es auch keine Möglichkeit zu einer ordentlichen Überprüfung gab. 1991/92 wurde diese Überprüfung der Richter des alten Regimes beendet, und ich habe in den Archiven recherchiert, dass damals mehr als 1600 Richter in den Dienst übernommen wurden. Davon waren 51 Prozent Mitglieder der kommunistischen Partei. Und das sind Menschen, die nicht ausgebildet waren, freie Entscheidungen zu treffen.“
Die wenigen Anläufe der vergangenen Jahre, Vertreter des kommunistischen Regimes vor Gericht zu stellen, landeten spätestens in der Berufung vor einem Richter, der selbst Teil dieses Regimes gewesen waren. 2008 gab es neue Hoffnung: Bei der slowakischen und bei der tschechischen Staatsanwaltschaft wurden knapp 300 Verbrechen gegen die Menschlichkeit angezeigt. In der Slowakei wurde das Verfahren nach zwei Jahren eingestellt. In Tschechien liegt der Antrag seit Jahren beim Amt für die Ermittlung und Dokumentation der kommunistischen Verbrechen. Doch es tut sich nichts.„Wir wissen, es leben noch zig Verantwortliche. Weil es aber Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, haben wir die internationale Gemeinschaft angerufen, uns zu helfen. Denn wenn man das Prinzip der extraterritorialen Jurisdiktion anwendet, kann man auch Täter aus Drittstaaten vor Gericht stellen, die ihre Tat im Drittstaat verübt haben. Das ist heute auf der ganzen Welt gängig.“Forderung nach einem internationalen Gerichtshof
Außerdem hat die Plattform schon vor drei Jahren einen Aufruf gestartet. Sie fordert die Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes zur Verfolgung der kommunistischen Verbrechen. Zugleich sollte in Tschechien die Debatte mit den Juristen an den Hochschulen eröffnet werden. Die aber ließen sich nicht darauf ein.
„Daraufhin entstand die Idee zu dem internationalen Projekt. Wir haben internationale Strafrechtler miteinbezogen – Strafrechtler aus Deutschland, aus der Schweiz, aus Litauen und aus Slowenien sowie eine Staatsanwältin aus der Schweiz. Da gab es keine Diskussion: Es ist eine Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Punkt. Es gibt keine andere Auslegung.“Neben den Toten an der Grenze hat sich die Plattform „Gedenken und Gewissen“ bislang mit einem weiteren vernachlässigten Kapitel beschäftigt: der Vertreibung der türkischen Minderheit aus Bulgarien im Sommer 1989. Das Echo auf die beiden Pilotprojekte, deren Ergebnisse auch publiziert wurden, war groß. Am 23. August will das estnische Justizministerium eine EU-weite Arbeitsgruppe zur strafrechtlichen Verfolgung von kommunistischen Verbrechen einrichten. Neela Winkelmann hofft, dass am Ende eine internationale Verurteilung des Kommunismus steht. Und im Oktober steht eine erneute Debatte mit den Juristen der Karlsuniversität bevor.
„Darum sind wir nun sehr gespannt, wenn wir die Ergebnisse der ausländischen Rechtsprofessoren zwei Jahre später wieder zurückbringen an die Karlsuniversität, wie sich die hier Debatte entwickeln wird.“