Auf den Spuren der Platte in Deutschland und Tschechien – Kunsthistoriker Vašek Kokeš
Vašek Kokeš erforscht den Plattenbau. Im August macht sich der tschechische Student auf den Weg nach Deutschland, um Siedlungen in Ost und West unter die Lupe zu nehmen. Dabei interessiert ihn die Architektur genauso wie der soziologische Mikrokosmos Plattenbau. Gerade in Deutschland will Kokeš auch Ideen finden, wie es mit der Platte in Tschechien weitergehen könnte – denn hierzulande lebt etwa ein Drittel der Bevölkerung in einem sogenannten „Panelák“.
„Das Interesse für Plattenbauten begann, als ich das Studium der Kunstgeschichte an der Prager Karlsuniversität aufgenommen habe. Angezogen hat mich das Thema, weil damals, vor fünf Jahren, fast keine Publikationen über Plattenbauten und Plattensiedlungen existierten. Es ist eines der wenigen, nicht bearbeiteten Themen der tschechischen Architektur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ein weiterer Grund war, dass es eine Menge Plattenbauten gibt. Fast jeder war schon einmal in einem dieser Bauten. Obwohl sie uns ständig umgeben, schenkt ihnen fast niemand Aufmerksamkeit. Mich hat daran gereizt, dass ich einer der ersten sein würde, die darüber schreiben.“
Hatte es auch persönliche Gründe?„Ich habe fast zehn Jahre in einem Plattenbau gelebt, in der Petrovice-Siedlung in Prag. Das heißt, es gibt durchaus eine persönliche Beziehung zum Plattenbau. Hauptsächlich hat mich aber gestört, wie schlecht das Ansehen dieser Häuser ist. Mich hat zudem von Anfang an fasziniert, wie innerhalb von zehn Jahren eine unglaubliche Menge an Wohnungen entstehen konnte. Es entstanden Viertel, die bei weitem größer sind als die historischen Stadtkerne. Außerdem war die staatliche Macht dahinter faszinierend, die diese Siedlungen den Menschen in den 1950er Jahren gewissermaßen aufgezwungen hat. Im Laufe der Zeit, je mehr ich mich damit beschäftige, desto mehr schmerzt mich der negative Ruf der Plattenbauwohnungen. Denn ich habe entdeckt, dass sie auch Qualitäten haben. Es hat mich interessiert, wie man vermitteln könnte, dass die Architektur nichts für das politische System kann, in dem sie entstanden ist.“
“Die Architektur kann nichts für das politische System, in dem sie entstanden ist.“
Der Allererste sind Sie aber nicht – in den letzten Jahren ist der Plattenbau auch in wissenschaftlicher Hinsicht entdeckt worden…
„Das stimmt. Es sind in letzter Zeit einige Publikationen herausgekommen. Eine der ersten war das Buch ‚Budováni sociálisticke modernity‘ von Kimberly Elman Zarecor, einer amerikanischen Kunsthistorikerin. Sie hat sich für die Entstehung der allerersten Plattenbauten in den 1950er und 1960er Jahren interessiert. Es war eine der ersten Arbeiten, die paradoxerweise zunächst auf Englisch erschienen ist, auf Tschechisch erst im vergangenen Jahr. Dann gibt es bereits einige sehr interessante Artikel wie zum Beispiel über den allerersten Plattenbau hierzulande von Architekt Miloslav Wimmer. Und diese Projekte werden immer mehr. Das bekannteste heißt ‚panelácí‘ und steht unter der Schirmherrschaft des Kunsthistorischen Museums. Dabei werden die Siedlungen in der ganzen Tschechischen Republik kartiert und Ausstellungen direkt in den Siedlungen gezeigt. Außerdem sind weitere, sehr interessante Bücher herausgekommen, zum Beispiel von Barbora Špičáková über die Siedlung Solidarita oder von Ladislav Zikmund-Lender über die Siedlung Invalidovna. Bislang geht es immer um Siedlungen, die auf irgendeine Weise interessant oder hervorstechend sind – nicht um die sogenannte gewöhnliche Siedlung am Stadtrand.“
“Nach 1989 hat sich der Lebensstil verändert, und damit auch die Ansprüche an die Wohnungen.“
Was ist also ihr spezielles Forschungsinteresse in Bezug auf Plattenbauten?
„Mich interessieren eben gerade diese gewöhnlichen Siedlungen. Sie bilden die große Masse der Plattenbauten. In meiner Bachelor-Arbeit habe ich mich mit dem Norden von Prag beschäftigt, konkret mit den Siedlungen Bohnice, Ladví und Prosek. Sie wurden in den 1970er Jahren gebaut, also zu der Zeit, als die meisten Plattenbausiedlungen entstanden. Obwohl es sich wirklich um Massenproduktion handelte, gab es auch Experimente, zum Beispiel bei der Verwendung der Platten. In meiner Magisterarbeit interessiere ich mich nun dafür, was mit den Siedlungen nach der Samtenen Revolution passiert ist. Nach 1989 wurden viele Plattenbauwohnungen privatisiert. Mit der Besitzerstruktur haben sich auch die rechtlichen Bedingungen verändert. Natürlich sind die Wohnungen auch älter geworden und mussten erneuert werden. Nach 1989 hat sich selbstverständlich der Lebensstil verändert, und damit auch die Ansprüche an die Wohnungen. Im Rahmen dieser Maßnahmen wurden zum Beispiel Innenwände herausgenommen und Warmwasserleitungen verlegt. Wir haben außerdem viele unterhaltsame, bunte Fassaden, die diesen Plattenbauten eher schaden als sie zu verschönern. Außerdem kam es natürlich auch schon zum Abriss von Plattenbausiedlungen, in Tschechien sind drei solcher Fälle bekannt. Was es auch gibt, ist der radikale Umbau von Plattenbauten. Das ist in Tschechien nicht so geläufig, aber gerade in der Slowakei und in Deutschland gibt es dafür viele Beispiele.“
Und aus diesem Grund sehen Sie sich nun die Situation in Deutschland an?„Genau, ich suche eben auch nach Beispielen aus dem Ausland, gerade weil die Situation nach der Wende in Deutschland eine andere war als in der Tschechischen Republik, konkret zum Beispiel in Hoyerswerda. Die Stadt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg quasi neu errichtet. Im Jahr 1989 hatte sie etwa 60.000 Einwohner. Wegen der wirtschaftlichen Situation und fehlender Arbeitsplätze sind die Menschen weggezogen, und in der Stadt leben noch etwa 33.000 Einwohner. Die Häuser aber sind aber geblieben. Das heißt, die Stadt musste eine Lösung dafür finden, was mit diesen leeren Häusern geschieht, wie man die Stadt verkleinern kann. Das ist eine einzigartige Situation, denn die meisten Städte wachsen. Zugleich musste auch eine Lösung her, damit diese Siedlungen attraktiver werden und nicht noch mehr Menschen weggehen. Solche Beispiele gibt es in Tschechien nicht, aber Sie sind meiner Meinung nach sehr wichtig, denn zu einer solchen Situation könnte es auch hierzulande kommen.“
2013 gab es eine Umfrage, wonach 70 Prozent der Plattenbaubewohner in Tschechien ihre Wohnbedingungen für ideal halten. Das heißt, eigentlich ist das Bild hierzulande doch eher positiv…„Ich denke, das ist richtig. Die Wohnungen in Plattenbauten bieten einen gewissen Standard, der die meisten Bedürfnisse der Menschen erfüllt. Ich denke, es ist eine gute Architektur. Die Menschen, die sie ablehnen, tun dies zumeist, weil sie diese mit dem kommunistischen Regime verbinden. Die Menschen aber, die darin leben, betrachten sie als ihr Zuhause. Es lebt sich bequem darin, größere Instandhaltungsmaßnahmen sind nicht notwendig. Darum sind sie, denke ich, weiterhin beliebt. Und vielleicht auch, weil Neubauten keine zusätzlichen Nutzen bringen. In den Plattenbauten hatte jede größere Wohnung einen Balkon oder eine Loggia. Was könnte ein Neubau noch mehr bieten? Praktisch nichts. Außerdem sind Neubauten teuer. Das heißt, viele Menschen bleiben auch aus diesem Grund in den Plattenbauten wohnen.“
Wie genau läuft nun die Forschungsreise nach Deutschland ab, was werden Sie sich ansehen?
“Mir geht es um die Lebensqualität der Menschen, die im Plattenbau wohnen.“
„Ich will mich natürlich mit den Menschen treffen, die über die Belange der Stadt entscheiden. Auch von ihnen muss der Impuls zur Lösung der Situation kommen. Und außerdem werde ich versuchen, mit den Menschen in den Siedlungen zu sprechen. Das ist sehr wichtig, denn Sie leben in diesen Häusern, und es geht um ihre Lebensqualität. Meiner Meinung nach ist das der wichtigste Punkt, die Bewohner müssen dort zufrieden sein. Außerdem möchte ich mich mit den Architekten treffen, die diese Änderungen im Auftrag der Stadt durchführen – und zum Beispiel auch mit Architekturtheoretikern.“
Und in dieser Arbeit möchten Sie die verschiedenen Perspektiven verbinden?„Ziel meiner Arbeit ist es, auch einige Beispiele aus Deutschland zu erforschen. Das sind außer Hoyerswerda noch Leipzig, Ilmenau und Bremen-Vahr, um sowohl west- als auch ostdeutsche Beispiele zu haben. Daraus soll eine kleinere Vergleichsstudie mit einer internationalen Perspektive werden, denn gerade das Wissen über die Lage im Ausland ist hier bei uns nicht sehr ausgeprägt. In meiner Magisterarbeit möchte ich die unterschiedlichen Zugänge vergleichen, und bewerten, die man vielleicht auch in Tschechien anwenden könnte. Denn die Frage der Revitalisierung der Plattenbauten betrifft in Tschechien jeden dritten Einwohner, 30 Prozent der Menschen leben in Plattenbausiedlungen. Außerdem interessieren mich die Fragen des Denkmalschutzes. Die Siedlungen sind schon alt und müssen geschützt werden. Sie haben meiner Meinung nach einen historischen Wert. Ich hoffe, und wünsche mir eben auch, dass es niemals wieder ein Regime geben wird, dass die Macht hat, auf der grünen Wiese eine neue Stadt zu errichten.“
Wie lange wird die Reise zu den deutschen Plattenbauten dauern?„Sechs Wochen. Ich möchte in jeder Stadt eine Woche bleiben, damit ich die Siedlungen auch gut kennenlernen kann. Und mit Hilfe von sozialen Netzwerken wie Couchsurfing will ich in den Plattenbauten übernachten und die Bewohner kennenlernen, mit ihnen darüber sprechen, wie es sich dort lebt.“
Wenn uns also nun jemand aus einer Plattenbauwohnung in Ilmenau, Leipzig oder Bremen-Vahr zuhört, dann könnte er Sie zu einer Nacht im Plattenbau einladen?
„Ja, darüber würde ich mich sehr freuen, wenn ich Menschen treffen könnte, die sich für den Plattenbau interessieren, die mir etwas über ihre Erfahrungen erzählen könnten. Denn ich denke, je mehr Menschen darüber sprechen, desto größer ist die Chance, zu einer Lösung zu kommen, die für alle akzeptabel ist.“