Beispiel für gelungene Roma-Integration: die Gemeinde Obrnice
Im strukturschwachen Nordböhmen, der Region mit der höchsten Arbeitslosenrate Tschechiens und einer besonders explosiven Stimmung zwischen Roma und Mehrheitsgesellschaft gibt es eine kleine Oase. Die Gemeinde Obrnice hat sich dank ihrer beherzten Bürgermeister die Integration der Roma zum Anliegen gemacht. Ende Oktober ist sie dafür vom Europarat mit dem Dosta-Preis ausgezeichnet worden. Wie ist es Obrnice gelungen, das zu schaffen, was anderswo seit Jahren scheitert?
„Assistenten zur Prävention von Kriminalität nennen wir uns. Wir kontrollieren, ob die Kinder morgens in die Schule gehen und abends nicht draußen rumlungern und schauen, dass niemand etwas zerstört oder sonst irgendwelche Dummheiten macht.“
Die Streifen zeigen ihre Wirkung – die Kriminalität in Obrnice ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen, auch dank der zehn Videokameras, die die Gemeindeverwaltung im Ort installiert hat. Auch von der Hetzstimmung gegen Roma, die im strukturschwachen Nordböhmen schon seit längerem virulent ist und in den letzten Monaten landesweit eskaliert, ist Obrnice verschont geblieben:„Im Vergleich zu anderen Gemeinden ist das Zusammenleben bei uns gut. Wir grüßen uns gegenseitig. Und wenn es ein Problem gibt, dann sprechen wir drüber und einigen uns irgendwie. Hier ist es ruhig. Aufmärsche von Rechtsradikalen? Das würde unsere Bürgermeisterin gar nicht erlauben.“Unsere Bürgermeisterin, Drahomíra Miklošová – das ist die erste Antwort auf die Frage, warum in Obrnice vieles so anders ist als in den Nachbargemeinden. Die sympathische 60-Jährige hat sich mit scheinbar unerschöpflicher Energie, Verantwortungsbewusstsein und einer großen Portion Optimismus das Leben in der Gemeinde zum Anliegen gemacht. Miklošová kann sich noch genau an den Tag erinnern, als sie, vor zehn Jahren, mit ihrem Mann nach Obrnice zog:
„Meine erste Reaktion war damals: Hier bleibe ich nicht. Es gab hier nichts. Keinen Ort, wo man sich treffen konnte, keine Kultur. Das Verhältnis zwischen Roma und Nicht-Roma war am Gefrierpunkt. Es lag in der Luft, dass es auch hier jeden Moment zur Explosion kommen könnte - wie in den Nachbarorten Janov und Duchcov.“Dass Miklošová damals geblieben ist und sich vornahm, das Leben in Obrnice gründlich umzukrempeln, ist das Verdienst ihres Mannes.
„Mein Mann hat damals gesagt: ‚Abhauen kann jeder. Aber etwas zu verändern, das erfordert Mut.’ Es war 5 vor 12 und irgendeine Lösung musste her.“
Gemeinsam mit ihrem Mann stürzte sich Drahomíra Miklošová mit voller Energie in die Kommunalpolitik und schaffte es, als Kandidatin der konservativen Bürgerdemokraten (ODS) zunächst Vize-Bürgermeisterin und 2010 Bürgermeisterin zu werden. In einer traditionell politisch rot gefärbten Region alles andere als erwartbar.Beherzt nahm sie die drängendsten Probleme der Gemeinde in Angriff. Neben der Kriminalität vor allem den massiven Mietwucher. Um den Wohnungsmarkt nicht skrupellosen Spekulanten zu überlassen, kaufte die Gemeinde mehrere privatisierte Wohnungen zurück. Für die Zukunft schwebt Miklošová ein systematisches Konzept für sozialen Wohnungsbau vor, den es in Tschechien bislang kaum gibt.
„Es geht heute nicht mehr um Roma oder Nicht-Roma.“, sagt Lucie Matějovicová. Sie ist Leiterin des neuen Zentrums für soziale Dienstleistungen, das im Frühjahr in Orbnice eröffnet wurde und über die Europäischen Sozialfonds finanziert wird.„Manche Leute hier denken: Ihr macht alles nur für die Zigeuner. Dabei geht es insgesamt um sozial Schwache. Sie haben alle dieselben Probleme: Arbeitslosigkeit, Wucher, Verschuldung. Ein Teufelskreis. Etwa ein Drittel der Familien, die zu uns in die Beratung kommen, sind keine Roma.“
Zum Beispiel Familie Langr - vier Kinder, Vater arbeitssuchend, Mutter in Mutterschutz. Im Mai zog die Familie nach Obrnice – ein zwielichtiger Vermieter hatte sie mit einer billigen Wohnung für 280 Euro, angeblich mit „allem Drum und Dran“ hergelockt. Die Familie unterschrieb blind den Mietvertrag und landete in einem Plattenbau, der in Obrnice nur „Haus des Schreckens“ genannt wird: kein warmes Wasser, keine Heizung; Schimmel an den Wänden, Kakerlaken; im Treppenhaus fingerdicke Schmutzschichten, Essensreste, Blut- und Urinflecken und nicht selten begegnet einem auch mal eine Ratte, erzählen die Streetworker. Das „Haus des Schreckens“ ist kein repräsentatives Beispiel für die Situation in Obrnice. Nicht mehr. Drahomíra Miklošová hat in letzten Jahren viel dafür getan, um Obrnice einen neuen Anstrich zu geben: Schule und Kindergarten wurden renoviert und Kinderspielplätze gebaut. Der Ort sei insgesamt wesentlich lebenswerter geworden, sind sich die meisten Obrnicer einig.Vor allem aber ist es Miklošová gelungen, ein neues Miteinander in Obrnice zu schaffen. Auf Stadtfesten, Laternenumzügen, Seniorentagen und Bällen hat sie die Bürger immer wieder zusammen gebracht. Vladimíra Šustková, Leiterin des örtlichen Kindergartens, ist vor sieben Jahren aus Obrnice weggezogen. Als sie kürzlich zurückkam, war sie verblüfft, wie sich der Ort verändert hat:
„Die Gemeinde hat es allen Altersgruppen ermöglicht, sich ins gesellschaftliche Leben einzubringen. Man merkt, dass die Menschen hier beschäftigt sind und keine Zeit mehr haben, irgendwelche Dummheiten zu machen. Früher gab es hier zwei Lager, jedes lebte für sich. Jetzt sind die beiden Gruppen miteinander verbunden.“Wo man hinkommt in Obrnice – ob Schule, Kindergarten, Gemeindezentrum – immer wieder hört man Sätze wie diesen von Schulleiter Vladimír Šiman:
„Unser Ziel war es von Anfang an, Roma-Kinder nicht separat zu behandeln, nicht zwischen Roma und Nicht-Roma zu unterscheiden. Wir legen dieselben Maßstäbe für alle an.“Šimans Grundschule praktiziert seit langem ganz selbstverständlich inklusive Bildung – lange bevor in Prag und Brüssel angefangen wurde darüber zu sprechen. Ähnlich auch der Kindergarten. Man hat den Eindruck, dass die Schlüsselstellen der Gemeinde an einem Strang ziehen. Für diesen komplexen Zugang zur Integration der Roma ist Obrnice mit dem Dosta!-Preis des Europarats ausgezeichnet worden. Ein Appell auch an andere tschechische Gemeinden. Bürgermeisterin Drahomíra Miklošová:
„Meine Philosophie ist: Lasst uns nicht die Roma von einer Stadt in die nächste schicken. Das ist zwar politisch einfacher. Aber ich finde, jeder Ort muss die Verantwortung für seine Roma übernehmen.“