Goldene Bulle von Sizilien: verschlungener Weg von Přemysl zum Königstitel (1.Teil)
Am 1. Januar hat die Tschechische Republik ihr 20. Gründungsjubiläum begangen. Dafür allerdings, dass sie auf wesentlich ältere Wurzeln zurückblicken kann, bot sich im Herbst 2012 eine gute Gelegenheit – das 800. Jubiläum der so genannten Goldbulle von Sizilien. Dass auch ein so altes, im In- und Ausland mehrfach erforschtes Dokument immer noch neue Fragen erwecken kann und neue Wertungen entstehen lässt, war auf einer Konferenz im Prager Nationalarchiv zu vernehmen. Einen Einblick in den dort miterlebten „Historikerstreit“ will Ihnen Jitka Mládková in einem Zweiteiler unserer Sendereihe „Kapitel aus der tschechischen Geschichte“ vermitteln. Im heutigen ersten Teil schildert der renommierte Historiker Josef Žemlička das Streben des ambitionierten Fürst Přemysl I., im Ausland unter dem Namen Ottokar bekannt, nach Macht und Anerkennung, das mit der sizilianischen Goldbulle gekrönt wurde.
„Große Schätze öffnen sich für die Augen der Menschen nur ausnahmsweise und immer nur für kurze Zeit.“
Mit diesen Worten leitete der tschechische Innenminister Jan Kubice seine Eröffnungsrede im Beisein von anderen Spitzenpolitikern, hohen Würdenträgern der Kirche, der Botschafter Deutschlands und Österreichs und anderen Ehrengästen ein. Das 800. Jubiläum der „Goldbulle von Sizilien“ sei ein Anlass, so der Minister, über die frühesten Wurzeln der tschechischen Staatlichkeit nachzudenken. Für den damaligen böhmischen Staat sei die Goldene Bulle ein Meilenstein in seiner Eingliederung in das mittelalterliche Europa gewesen.
Sehnsucht nach Macht und Prestige, politischer Kalkül und Heereszüge, Liebe und Scheidung – all das kennzeichnete die Herrschaft des böhmischen Fürsten Přemysl I. ab seiner Machtübernahme im Jahr 1192. Eines seiner wichtigsten Ziele war, „rex boemorum“ - böhmischer König - zu werden. Auch um endlich mit den umliegenden Ländern gleichzuziehen. Hierzu ein Rückblick von Historiker Josef Žemlička von der tschechischen Akademie der Wissenschaften auf das Jahr 1000, Zitat: „…als die Pfeiler der mitteleuropäischen politischen Ordnung errichtet wurden“:
„In diesem Jahr gelang es Stephan dem Heiligen, dem Begründer des ungarischen Staates, die Königswürde zu erlangen sowie auch ein Erzbistum mit Sitz in Esztergom zu gründen. Ein ähnlicher Weg wurde auch in Polen eingeschlagen. Böhmen ging aber leer aus, weil hier zur selben Zeit ein Bürgerkrieg tobte - also kein Königstitel, kein Königreich, kein Erzbistum. Um diese Ehren bemühten sich die Přemysliden noch weitere 200 Jahre. Zwar wurde Vratislav II. bereits 1085 von Kaiser Heinrich IV. feierlich in Mainz zum ersten böhmischen König gekrönt. Es handelte sich aber nur um eine persönliche Auszeichnung. Seine Nachfolger regierten dann wieder ‚nur noch’ als Fürsten. 1158 empfing Vladislav II. in Regensburg von Kaiser Friedrich Barbarossa die Königsweihe. Das begleitende Privileg beinhaltete bereits bestimmte Hinweise, dass die Přemysliden den erblichen Königstitel erhalten könnten. Dazu kam es damals aber nicht.“
Im Gegenteil! Žemlička zufolge wurde das Regieren für die nachfolgenden böhmischen Fürsten eher schwieriger, weil das Römische Reich verstärkt in das geläufige Erbfolgeprinzip eingriff. Auch Fürst Přemysl stand nicht abseits der machtpolitischen Auseinandersetzungen, die für ihn unangenehme Konsequenzen hatten. Er wurde schon nach einem Jahr im Amt aus dem Land vertrieben und verbrachte vier Jahre im Exil. 1197 kehrte er nach Böhmen zurück und übernahm wieder die Regierung. Im selben Jahr kam es noch zu anderen bedeutenden Ereignissen:„Im Dezember 1197 stirbt Heinrich VI., eine starke Persönlichkeit auf dem Thron. Kurz danach entflammt ein Kampf um die Kaiserkrone zwischen dem Staufer Philipp von Schwaben und dem Welfen Otto IV. von Braunschweig. Přemysl setzt in diesem Konflikt auf die staufische Karte. Während eines Feldzugs, in dem Otto IV. entmachtet werden sollte, wird Přemysl im Herbst 1198 in Mainz nach dem Willen von Philipp von Schwaben zum böhmischen König erhoben. Man geht davon aus, dass damit das Privileg schriftlich fixiert ist, das ´Regnum Bohemiae´ als Erbgut und zahlungsfrei zu regieren. Ähnliches lässt 1203 auch Otto IV. von Braunschweig an Přemysl übertragen, nachdem dieser in sein Lager übersattelt. Keines der beiden Dokumente ist bis heute erhalten geblieben.“
Die Historiker stellen sich bis heute die Frage, warum Přemysl nach seinem zweiten Amtsantritt in weniger als einem Jahr erneut zum König erhoben wurde. Žemlička sieht verschiedene Faktoren vor dem Hintergrund des fortschreitenden Niedergangs der böhmischen Länder gegen Ende des 12. Jahrhundert und dem dann folgenden gewaltigen Aufschwung im 13. Jahrhundert:„Als einen symbolischen Auslöser haben schon früher vor allem deutsche Historiker den Tod Heinrichs VI. betrachtet und den darauf folgenden Konflikt der beiden Gegenkönige. Einige Historiker sehen einen Grund auch darin, dass die Přemysliden nur noch wenige Mitglieder zählten und nicht mehr wie in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts weit verzweigt waren und sich häufige machtpolitische Streitereien lieferten. Wichtig war aber auch, dass im 12. Jahrhundert die Kolonisation böhmischer Gebiete ziemlich unauffällig ihren Höhepunkt erreichte, was wiederum nicht lange auf den wirtschaftlichen Aufschwung warten ließ.“
Gerade das turbulente Geschehen zur Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert soll nach Meinung vieler Historiker auch zum Erlass der Goldenen Bulle von Sizilien im Jahr 1212 geführt haben. Doch Přemysls Weg zur begehrten Anerkennung als König auch durch den Kaiser war mit Dornen gespickt. Als höchst problematisch erwies sich die Trennung von seiner Ehefrau Adelheid von Meißen. Der Historiker Josef Žemlička:„Nachdem Přemysl 1199 seine Ehe durch einen seiner Bischöfe als ´von Anfang an ungültig´ erklären ließ und nachfolgend die ungarische Königstochter Constanze heiratete, blieb dies nicht ohne politische Resonanz. Seine erste Frau legte Widerspruch vor dem päpstlichen Stuhl ein. Doch vor allem in Person seines ältesten Sohnes Vratislav, den Přemysl von seinem Hof vertrieb, war das Problem eine Zeitbombe. Das verstieß gegen das Erbfolgeprinzip, laut dem Vratislav als erstgeborener Sohn von seinem Vater die Regierungsgeschäfte hätten übernehmen sollen. Durch die Scheidung seines Vaters galt Vratislav aber als außereheliches Kind.“
Unterstützung fand der böhmische König bei Philipp von Schwaben, der nach längerem Zögern der Verlobung seiner Tochter Kunigunde mit Přemysls Sohn Wenzel aus der zweiten Ehe zustimmte. Damit bestimmte er indirekt über die Legitimität von Přemysls Ehe mit Constanze und damit auch über die Thronfolge in Böhmen. Das letzte Wort über den Ehezwist hatte allerdings der Papst Innozenz III. Aus taktischen Gründen ließ er fast zehn Jahre vergehen, bevor er Přemysls erste Ehe annullierte.1208 wurde Philipp von Schwaben ermordet und zum römischen König wurde Otto von Braunschweig gewählt. Zwei Jahre später wurde Otto auch römischer Kaiser. Darin sah der Papst eine bestimmte Gefahr für Italien und sich selbst. Deswegen rief er die Reichsfürsten, unter ihnen auch Přemysl, zu einer neuen Wahl auf. Innozenz´ neuer Favorit war jetzt der junge Staufer, Friedrich II., König von Sizilien, Herzog von Apulien und Fürst von Capua. Um ihm den Weg zur Kaiserkrönung zu ebnen, waren Konzessionen an die Reichsfürsten notwendig. Um ihre Stimmen musste Friedrich allerdings „vor Ort“ im Reich werben. In Basel, wo er bei seiner Fahrt die erste Station auf dem Reichsgebiet machte, erließ er am 26. September 1212 drei mit seiner Goldbulle versiegelte Urkunden. Die für Přemysl wichtigste bestätigte die erbliche Königswürde für böhmische Herrscher. Mit der zweiten Urkunde wurde Přemysls jüngerer Bruder Vladislav Jindřich als Verwalter von Mähren bestätigt. In der dritten wurde seine Belehnung mit Ländereien und Gütern in der Pfalz und im Vogtland verankert. Es gab aber noch mehr bedeutende Privilegien für das Königreich Böhmen, meint Žemlička:
„Anerkannt wurde unter anderem die Unabhängigkeit Böhmens in Fragen der inneren und freien Königswahl, die vom römisch-deutschen König respektiert und vom Kaiser durch die Erteilung der königlichen Insignien bestätigt werden sollte. Andere Privilegien betrafen zum Beispiel die Unteilbarkeit des Königsreichs Böhmen und Mähren. Umgewandelt wurden auch einige Pflichten des böhmischen Königs wie etwa die Romfahrtspflicht, auf der er den Kaiser zu begleiten hatte. Sie wurde durch eine Geldleistung ersetzt. Eingeschränkt wurde auch seine Hoftagspflicht, und zwar nur auf Bamberg, Merseburg und Nürnberg.“Der drei Mal bestätigte böhmische König habe gewusst, so Žemlička, seine Privilegien mit Bravour auszunutzen. Das gelang ihm besonders beim Einfädeln dynastischer Bindungen von Prestige durch Eheschließungen seiner Kinder. Dass die Goldbulle von Sizilien unter ungewöhnlichen Umständen erlassen wurde, bestreitet der Historiker nicht. Seiner Meinung nach schmälert dies aber nicht die Bedeutung des historischen Dokuments:
„Friedrich bezeichnete sich damals als ausgewählter beziehungsweise designierter römischer Kaiser - ´Romanorum imperator electus´. Bevor er sich auf seine Reise von Sizilien Richtung Norden begab, hätte ordnungsgemäß seine Krönung in Rom,, erfolgen müssen. Er weilte zwar eine Zeitlang beim Papst, doch die Krönung fand nicht statt. Friedrich verfügte zwar über ein einfaches Wachssiegel des römischen Herrschers, doch die Dokumente für den böhmischen König sollten mit einem viel größeren, repräsentativen Siegel versehen werden. Deswegen gab Friedrich für den speziellen Zweck dem großen Goldsiegel den Vorzug: der Goldbulle des sizilianischen Königs.“Die Liste der tschechischen und deutschen Historiker, die sich im 19. und 20. Jahrhundert mit dem Inhalt und der Bedeutung der Goldbulle von Sizilien befasst und auch häufig über sie gestritten haben, ist sehr lang. Doch nicht nur über die Umstände allein, unter denen die Goldbulle erlassen wurde, streiten sich 800 Jahre danach die Fachleute. Auch eine ganze Reihe von Merkmalen der einzelnen Urkunden, die Unterschiede in ihrer grafischen Ausführung oder der Stil der Formulierungen und vieles mehr lassen einige von ihnen das mittelalterliche Dokument in einem neuen Licht sehen.