Tschechen, Böhmen und der olympische Gedanke
Am Freitag wurden in London die 30. Olympischen Sommerspiele eröffnet. Mit dabei sind auch 133 tschechische Athleten. Sie führen damit eine lange Tradition bei den neuzeitlichen Spielen fort: Bereits 1900 haben tschechische Sportler teilgenommen – und das sogar als selbständige Nation. Doch wie kam es dazu und warum es keine gemeinsame Mannschaft des Habsburger Reiches?
Das Internationale Olympische Komitee besteht seit 1894, gegründet vom Franzosen Pierre de Coubertin, der auch der erste Generalsekretär war. Heute ist das IOC eine halbe Weltversammlung. Doch anfangs bestand es nur aus 13 Mitgliedern. Unter ihnen war auch Jiří Guth aus Böhmen, Sohn eines k.u.k. Beamten und Doktor der Philosophie, selbst aber kein Leistungssportler. Als einziger vertrat er zudem ein Volk ohne eigenen Staat, die Tschechen waren schließlich Teil der Habsburger Monarchie. Wie es zu diesem Kuriosum kam, erzählt der Prager Sporthistoriker Marek Waic:
„Wie das im Leben so ist, spielte der Zufall eine große Rolle. Jiří Guth, der nach dem Ersten Weltkrieg seinem Namen noch die Erweiterung Jarkovský hinzufügte, war ein Gymnasiallehrer in Klatovy. Er reiste leidenschaftlich gerne, und da es sich am besten auf Staatskosten reist, bewarb er sich 1891 auf ein Stipendium, das das österreichische Schulministerium ausgeschrieben hatte. Er sollte sich in Paris mit dem französischen Sportunterricht bekanntmachen, weil das Ministerium den Unterricht in dem Fach verbessern wollte. Guth erhielt ein Stipendium, obwohl er andere Fächer als Sport unterrichtete. In Paris traf er einen alten Studienfreund und fragte ihn, wie er am besten und schnellsten etwas über den französischen Sportunterricht erfahren könnte. Er wurde an Pierre de Coubertin verwiesen. Guth suchte ihn auf, und seitdem waren beide Männer befreundet. Ihnen verdanken wir Tschechen zu großen Teilen, dass wir Gründungsmitglieder des IOC und der neuzeitlichen olympischen Bewegung sind.“
Doch die Männerfreundschaft war nicht der einzige Grund für das tschechische Privileg, ohne eigenen Staat zur Gründungsnation des IOC zu avancieren. Auch die tschechische Turnerbewegung Sokol hatte ihren Anteil.
„Die Sokoln nahmen ab dem Ende des 19. Jahrhunderts, besonders dann ab 1889, an den Wettbewerben des französischen Turnerbundes teil und waren dabei recht erfolgreich. Die Tschechen galten deswegen und wegen der Verbreitung des Sokol-Gedankens vor allem in den slawischen Ländern als sportlich entwickeltes Volk“, so Waic.
Auch deswegen setzte Coubertin durch, dass Jiří Guth IOC-Mitglied wurde. Dabei war sein böhmischer Freund beim Kongress in Paris nicht einmal zugegen. In seinen Erinnerungen schrieb Guth, dass ihm das österreichische Schulministerium schwerlich Urlaub gewährt hätte für etwas „so Exotisches und Unbekanntes“ wie die olympische Bewegung.
Doch die ersten neuzeitlichen Olympischen Spiele im April 1896 kamen noch zu früh für eine tschechische Teilnahme. Nur Jiří Guth brach zur Fahrt nach Athen auf. Anlässlich Olympia in Berlin 1936 erinnerte er sich im Tschechoslowakischen Rundfunk an seine damaligen Eindrücke aus Griechenland:„Schon damals wurde versucht jenen, die auf griechisches Territorium kamen, auf das Freundlichste entgegenzukommen. Zug und Dampfer boten Rabatte, und die Zollkontrollen fielen fast weg. Die Aufgebote wurden mit feierlichen Reden und Musik begrüßt. Und wer das erste Mal dort hinkam, auf den machte die altklassische Umgebung in frühlingshaft warmer Luft unter klarem Himmel, überragt von Akropolis, Olivenbaumpromenade und den Hügeln, die in südliches Licht getaucht waren, einen unbeschreiblichen Eindruck. Schade, dass an den Spielen nicht auch tschechische Turner teilgenommen haben. Zwar wären einige gerne gekommen, doch konnten sie dies wegen der hohen Ausgaben für die Reise nicht. Und Subventionen gab es keine. Nur der Athletische Club Sparta sandte ein Grußtelegramm nach Athen.“
Tschechische Athleten fehlten vor allem, weil es damals noch keinen Sportverband in Böhmen gab, der Teilnehmer entsenden konnte. Jiří Guth war indes so begeistert von seinen Erlebnissen in Athen, dass er in einem Zeitungsartikel für eine tschechische Teilnahme warb. Besonders die Sokol-Mitglieder wollte er dazu bewegen. Doch die hatten laut Historiker Waic eine sehr reservierte Haltung gegenüber der olympischen Bewegung:„Die Sokoln nahmen zwar ab den Spielen in Paris an Olympia teil, aber nur als Privatpersonen und nicht als Mitglieder des Verbandes. Allgemein hielten die Turner auch aus anderen Ländern die Spiele für zu einseitig und auf Leistung ausgerichtet. Zudem missfiel besonders den französischen Turnern, dass sie auf die Ausrichtung ihrer Wettkämpfe und die Olympia-Planung keinen großen Einfluss hatten.“
1899 gelang aber dann die Gründung eines Nationalen Ausschusses für die Olympischen Spiele in Paris, der sich schon im darauffolgenden Jahr institutionalisierte. Vorsitzender wurde Jiří Guth. Durch diese Verbandsgründung konnten Sportler aus Böhmen dann bereits an den zweiten neuzeitlichen Sommerspielen teilnehmen. Der Ausschuss entsandte vier Athleten, zwei Sokol-Turner reisten zudem privat an. Doch das kleine Aufgebot hatte Erfolg: Es reichte zu einem zweiten Platz im Diskuswerfen durch Leichtathlet František Janda-Suk und zwei dritten Plätzen durch Tennisspielerin Hedwig Rosenbaum. Ein solcher Auftakt war ganz nach dem Geschmack von Jiří Guth, der sportliche Erfolge bei Olympia als geeigneten Weg zur Eigenständigkeit ansah.
Bis zu den Spielen in Stockholm traten tschechische Sportler unter der einfachen Bezeichnung „Böhmen“ an. Wien versuchte indes, diese Selbständigkeit zu unterbinden. Doch ohne großen Erfolg, wie der Sporthistoriker erläutert:
„Das lag daran, dass die Österreicher bis 1905 keinen Vertreter im IOC hatten. Bis dahin hatte sich Jiří Guth, der als geschickter Diplomat und Mann des Konsenses im IOC allgemein beliebt war, eine gute Position geschaffen. Als dann der erste österreichische Vertreter aufgenommen wurde, war Jiří Guth bereits im IOC stark verankert.“Der erste Österreicher im IOC war Alexander Prinz zu Solms-Braunfels, er wurde 43. Mitglied des Olympischen Komitees. Zuvor hatten tschechische Sportler aus finanziellen Gründen 1904 nicht an den Spielen in St. Louis teilgenommen. Vier Jahre später in London wurde eine 18-köpfige Delegation aus Böhmen entsandt, die dank der Fechter zweimal Bronze nach Hause brachte.
Bei den Spielen 1912 in Stockholm traten die Tschechen im Team Österreich-Böhmen an, zudem bestand weiterhin ein rein österreichisches Team. Böhmen entsandte zwar das bis dahin größte Aufgebot, doch keiner der 45 Athletinnen und Athleten erkämpfte eine Medaille. Zu sportlichen Erfolgen reichte es für Tschechen erst wieder nach dem Ersten Weltkrieg, im Rahmen des eigenständigen tschechoslowakischen Staates. Jiří Guth, der sich nun Jiří Stanislav Guth-Jarkovský nannte, blieb noch bis 1929 Vorsitzender des Tschechoslowakischen Olympischen Komitees. Er starb 1943 im Alter von 81 Jahren.