Paul Mahrer kehrt zurück: Wie ein 100 Jahre altes Olympia-Trikot nach Prag kam
Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. So etwa auch die Olympischen Spiele in Paris. Diese sollen in Prag mit einer Ausstellung zur olympischen Geschichte Tschechiens beziehungsweise der Tschechoslowakei begleitet werden. Eines der wertvollsten Ausstellungsstücke dort ist genau 100 Jahre alt – ein Trikot, getragen vom Fußballspieler Paul Mahrer, der einst für den jüdisch-deutsch-tschechischen Fußballverein DFC Prag spielte. Seine Nachkommen brachten vergangene Woche das Stück nach Tschechien – und streiften auf dem Fußballplatz ein heutiges Trikot des Vereins über.
Es ist ein erhebender Moment für Alec Mahrer. Bei einem Fußballspiel in Prag trägt er das Trikot des Deutschen Fußball-Clubs Prag. Sein Großvater Paul Mahrer war in der Zwischenkriegszeit der Star des Vereins gewesen und trat 1924 mit dem tschechoslowakischen Nationalteam bei Olympia an. Alec kommt aus New York und ist zusammen mit weiteren Familienmitgliedern aus den USA angereist – natürlich nicht nur für das Spiel. Aber das blau-weiße Jersey des DFC Prag bedeutet ihm Einiges:
„Ich war stolz, mit der Kapitänsbinde am Arm das Team auf den Platz zu führen und den Zuschauern zuzuwinken. Ich bin so froh, dass diese Veranstaltung organisiert wurde.“
Auf dem Platz bildet das All-Star-History-Team des DFC Prag den Sparringpartner für die Mannschaft der deutschen Minderheit in Tschechien. Diese bereitet sich gerade auf die Europameisterschaft der autochthonen nationalen Minderheiten, die Europeada, vor. Letztlich können die teils betagten DFCler trotz der Unterstützung aus Übersee den jungen Kickern der Minderheit nichts entgegensetzen und gehen mit 2:25 unter.
Die Begegnung, die in einem kleinen Stadion am Nordrand von Prag ausgetragen wird, hat allerdings eine tiefere Bedeutung. Denn der Deutsche Fußball-Club Prag war unterlegener Finalgegner des VfB Leipzig im Endspiel um die erste deutsche Meisterschaft. Als jüdisch-deutsch-tschechischer Verein musste er 1939 aufgelöst werden, nachdem Hitler die Tschechoslowakei besetzte.
Thomas Oellermann gehört zu jenen Enthusiasten, die den DFC vor acht Jahren wiedergegründet haben und erläutert die Symbolik des Spiels vom Montag:
„Man könnte sagen, dass sich hier die Gegenwart verbunden hat mit der Vergangenheit. Der DFC Prag hat ja eine glorreiche Geschichte. Dass wir jetzt die Verstärkung hier hatten durch die Familie Mahrer, die auch für die große Geschichte des DFC steht, das ist eine schöne Kombination mit der Gegenwart. Und diese wird von der Europeada-Mannschaft der deutschen Minderheit repräsentiert, die in wenigen Wochen schon bei der Europameisterschaft der nationalen Minderheiten antreten wird.“
Die Europeada findet dieses Jahr in Nord- und Südschleswig statt, also in Dänemark und Deutschland.
Aus den USA nach Prag
Drei Tage zuvor im Nationalmuseum in Prag. Die Familie Mahrer aus den USA übergibt ein 100 Jahre altes Original-Trikot ihres berühmten Vorfahren für eine Ausstellung. In diesem lief Paul Mahrer für die tschechoslowakische Nationalmannschaft bei den Olympischen Spielen 1924 in Paris auf.
„Wir haben das Trikot irgendwie für eine lange Zeit weggeschlossen, ohne darüber nachzudenken, wo man es hingeben könnte. Meine Mutter hatte es aufgehoben wie auch alle anderen Familienstücke – Fotos, Medaillen…“, so Alec Mahrer.
Insgesamt sind acht Nachkommen der Familie und ihre Angehörigen mit nach Prag gekommen. Darunter auch zwei Urenkel. Einer von ihnen ist Adam Klein aus San Francisco. Er sagt:
„Für mich ist das hier ein besonderes Ereignis als Teil einer weiteren Generation. Ich habe immer die ganzen Erzählungen über meinen Ur-Ur-Großvater gehört. Aber jetzt bin ich hier, und nicht nur die Familie, sondern auch Andere und sogar ein Museum haben Interesse an der Geschichte. Das macht auf einmal die Erzählungen zu etwas Wertvollem.“
Die Geschichte von Paul Mahrer kennt auch Thomas Oellermann sehr genau. Als fußballbegeisterter Historiker hat er sich mit dem Star des DFC Prag aus der Zwischenkriegszeit beschäftigt. Mahrer wird 1900 in Teplice / Teplitz geboren und spielt nach dem Ersten Weltkrieg zunächst in der Erstligamannschaft des Teplitzer FK…
„Er wechselt dann zum DFC Prag, weil der Verein doch noch eine Nummer größer ist als der Teplitzer Fußball-Klub. Und er wird zum Nationalspieler, weswegen er sich auch 1924 im Aufgebot der Tschechoslowakei für die Olympischen Spiele in Paris wiederfindet“, so Oellermann.
Allerdings können die Kicker des Landes ihrer Mitfavoritenrolle beim olympischen Turnier nicht gerecht werden. Zdeněk Škoda ist Vizevorsitzender der Tschechischen Olympischen Akademie:
„Sie gewinnen nur ein Spiel, den Auftakt gegen die Türkei. Dann scheiden sie gegen die Schweiz aus, obwohl sie als Favoriten gelten. Aus den Erinnerungen und den Zeitungsartikeln geht hervor, dass sie nicht gekämpft haben. Das tschechoslowakische Team gehörte eigentlich zur europäischen Spitze. Ich würde sagen, dass sie die Nase wohl etwas hoch trugen. Deswegen haben wir aus dieser Zeit keine olympische Fußballmedaille.“
Bereits 1922 hat Paul Mahrer geheiratet, und zwar Betty Guttmann aus einer gut situierten Prager Familie. Ihre beiden Söhne kommen 1926 und 1929 zur Welt, während der Familienvater seine Fußballkarriere fortsetzt. Thomas Oellermann:
„Er spielt weiter für den DFC, macht noch einige Länderspiele. Ende der 1920er Jahre wechselt er dann in die USA, denn dort gibt es damals schon ganz gutes Geld im Fußball. Paul Mahrer läuft zunächst für die Brooklyn Wanderers auf, kommt aber zwischendrin immer mal wieder nach Prag zurück, um für den DFC zu spielen, und ankert schließlich bei Hakoah New York. Dann ist aufgrund der Weltwirtschaftskrise das große Geld in den USA doch weg, weswegen er mit seiner Familie dauerhaft in die Tschechoslowakei zurückkehrt.“
Wieder in Prag, läuft Paul Mahrer erneut für den DFC auf, beendet aber Mitte der 1930er Jahre seine aktive Karriere. Danach betreibt er eine florierende Maßschneiderei in der Stadt an der Moldau.
Doch 1939 marschieren die Nationalsozialisten in Prag ein. Damit beginnt für ihn als Juden die Verfolgung. Zunächst ist er zwei Jahre lang im Gefängnis im Stadtteil Pankrác und kommt dann ins Ghetto und Konzentrationslager Theresienstadt.
„In Theresienstadt gibt es eine Fußballliga, die sogenannte Ghetto-Liga. Da ist Paul Mahrer eine wichtige Persönlichkeit. Er überlebt Theresienstadt und den Holocaust. Nach der Befreiung 1945 bleibt er noch ein Jahr in der Tschechoslowakei, weil es auch nicht so leicht ist, in die USA zu kommen. 1946 geht er dann in die Vereinigten Staaten und trifft dort seine Familie wieder, die auf anderen Wegen dort hingelangt war. Seitdem lebte er in den USA, hielt aber Kontakt auch in die Tschechoslowakei. Es gab gegenseitige Besuche: Er war hier mit seiner Familie, und Freunde aus tschechoslowakischer Zeit haben ihn dort besucht“, schildert Oellermann.
Fußball im Blut
Doch mit seinen Erfolgen als Fußballer prahlt Paul Mahrer nicht in seiner Familie. Sein Können aber bleibt auch den Nachkommen nicht verborgen. Enkelsohn Thomas Mahrer während der Trikotübergabe im Nationalmuseum:
„Ich erinnere mich, wie ich ihn als Kind mit einem einfachen Gummiball jonglieren sah: Er ließ ihn auf dem Fuß springen, auf der Schulter, dem Rücken und dem Kopf. Er konnte alles, was er wollte. Aber er nahm uns nicht mit nach draußen auf den Fußballplatz, um uns sein Können vorzuführen. Er lebte mehr im Jetzt, als in der Vergangenheit.“
Doch die Fußballer-Gene wurden offensichtlich weitervererbt. Enkelsohn Alec Mahrer war in jüngeren Jahren ein hochbegabter Spieler, der sich aber gegen eine Profikarriere entschied…
„Mein Großvater war für mich ein Idol, weil ich den Fußball schon als Kind im Blut hatte. Gegen den Ball zu kicken war das Einzige, wozu ich in der Lage war. Ich war so stolz, dass mein Großvater im tschechoslowakischen Nationalteam gespielt hat. Als ich einmal im Central Park war, traf ich einen alten tschechischen Mann. Und ich fragte ihn: Kennen Sie meinen Großvater, Paul Mahrer? Und er kannte ihn. Das war in den 1970er Jahren.“
Dass nun das 100 Jahre alte Trikot den Weg zurück nach Prag gefunden hat, ist Thomas Oellermann zu verdanken. Er steht schon seit einigen Jahren in Kontakt mit der Familie Mahrer:
„Das ist einer der schönen Augenblicke im Leben, die man so hat als jemand, der sich für die Geschichte des Fußballs interessiert. Eines Tages hält die Familie Mahrer in New York ein altes Trikot in die Kamera auf Zoom. Und man denkt sich: Hoi, da ist ein altes Olympia-Trikot, und das ist einhundert Jahre alt. Da begann ich dann mit der Familie Mahrer darüber zu sprechen, was es mit dem Trikot auf sich hat. Es ist einfach toll, dass sie alle sehr interessiert sind an der Geschichte allgemein und auch an der eigenen Familiengeschichte. Die Mahrers sind sehr offen, diese Geschichte zu erzählen und öffentlich zu machen. Von daher waren sie auch relativ schnell bereit, dieses Trikot an das Nationalmuseum zu leihen für die geplante Ausstellung zur olympischen Geschichte.“
Kuratiert wird die Ausstellung von Lucie Swierczeková, die beim Nationalmuseum für das Archiv zur Geschichte von Körpererziehung und Sport zuständig ist:
„Für den Oktober ist diese Ausstellung mit dem Titel ‚Olympic Stories‘ geplant. Dabei geht es nicht nur um die Olympischen Spiele in Paris von 1924 und die in diesem Jahr am selben Ort, sondern auch um weitere Episoden aus der tschechischen und tschechoslowakischen Olympia-Geschichte. Das Trikot wird das älteste Stück Kleidung sein in der Ausstellung, denn wir haben in unseren Sammlungen nichts Vergleichbares. Ansonsten werden auch Medaillen von 1924 gezeigt, aber wahrscheinlich ebenso von den Olympischen Spielen in Antwerpen vier Jahre zuvor. Zudem sind interessante Gegenstände zu sehen, die wir bisher noch nie für eine Schau genutzt haben.“
Dass Mahrers altes Trikot nun einen Teil der tschechoslowakischen Sportgeschichte repräsentieren soll, erfüllt Alec Mahrer nicht nur mit Stolz:
„Es ist auch das Gefühl, nach Hause zurückzukehren. Die Dinge finden ihren Platz, es schließt sich ein Kreis.“