Netz, Knüppel, Pfanne – Stationen des böhmischen Weihnachtskarpfen

Foto: Marek Čech, Rybářství Třeboň a. s.

Der Weihnachtskarpfen ist im östlichen Mitteleuropa das traditionelle Gericht an Heiligabend. Eine christliche Tradition aus einer Zeit, in der der Advent noch als Fastenzeit galt, die ihren Höhepunkt gerade am Heiligen Abend erlebte. Für die Tschechen ist noch heute Weihnachten ohne Karpfen wie Ostern ohne Eier - schlicht unvorstellbar. Aber wo kommen eigentlich die ganzen Karpfen her, die Heiligabend auf ihren und auf den Tischen vieler anderer Mitteleuropäer landen? Die meisten kommen aus Třeboň / Wittingau in Südböhmen, wo sie schon im Oktober und November nach alter Weise abgefischt werden. Dann bleibt dem Karpfen nur noch eine Galgenfrist. Christian Rühmkorf hat den Weg des böhmischen Karpfens verfolgt: vom Teich bis fast auf die Tafel.

Foto: Marek Čech,  Rybářství Třeboň a.s.
„Ich zeichne das mal in den Schlamm. Hier an der Stirnseite das Netz und die Boote mit den Fischern. Das Fußvolk, die „pěšáci“, also Fischer ohne Boot, die dort in Gummihosen bis zur Brust im Wasser stehen, ziehen von links. Die anderen, in den Booten, das sind die „hajní“, die ziehen von rechts. Damit sich das Netz richtig auslegt. Aber vorher müssen sich die Männer mit dem Netz verbinden. Das werden Sie hören, wenn die Befehle gerufen werden“, erklärt Petr Sedláček fachmännisch, während er mit seinen kniehohen Gummistiefeln Linien in den Schlamm des Fischteiches Dvořiště zieht.

Petr Sedláček  (Foto: Radim Havlík,  Prostějovský deník)
Immer wieder weist er dabei raus in den Nebel, wo sich ein paar Silhouetten im dichten Weiß auflösen. Sedláček ist technischer Leiter für Wasserwirtschaft im südböhmischen Třeboň. Und an diesem Morgen wird bei Frost der fast 400 Hektar große Teich abgefischt. Nachdem in den Tagen zuvor der Wasserspiegel um zwei, drei Meter abgesenkt wurde, haben sich zigtausende Karpfen rund 50 Meter vor dem Damm gesammelt, da, wo die letzte tiefe Stelle ist. Von dort sollen sie nun mit einem riesigen Netz ans Ufer gezogen werden.

„Das Netz ist für ganze hundert Tonnen Fisch ausgelegt. Und jetzt ziehen es die Fischer mitsamt den Booten Richtung Ufer und engen so den Raum für den Fisch ein.“

Foto: Marek Čech,  Rybářství Třeboň a.s.
Am Ufer stehen fünf, sechs weitere Männer, schlagen mit ellenlangen Holzstangen in ruhigem Rhythmus auf das Wasser und treiben so den fliehenden Fisch zurück in die Falle.

Langsam kommt Hektik auf. Petr Sedláček spricht in immer schnelleren Worten, fast wie ein Sportkommentator. Gummistiefel knirschen im Schlamm. Und zehn starke Männer stemmen sich wie beim Tauziehen mit aller Kraft gegen fünfzig Tonnen Karpfen. Boote und Netz nähern sich allmählich dem Ufer. Gut eine halbe Stunde später bilden die Boote am Ufer einen Halbkreis, in ihrer Mitte peitscht ein glitschiges Gewirr aus Flossen das Wasser auf. „Ryba vaří“, der Fisch kocht, wie es in der alten Fischersprache heißt.

Foto: Marek Čech,  Rybářství Třeboň a.s.
Die nächsten Stunden haben die Fischer am Ufer alle Hände voll zu. Mit Käschern fahren sie zügig in das Gewimmel von Flossen und weit aufgerissenen Mäulern und holen zuerst den empfindlichen, teuren Zander heraus. In Windeseile wird er mit Kisten in die Wassertanks auf dem bereitstehenden Lkw verladen.

Derweil sitzt in dem kleinen alten Häuschen auf dem Damm Václav Rameš, umgeben von vergilbten Fotografien an den Wänden, auf denen die Fischzüge längst vergangener Zeiten verewigt sind. Václav Rameš ist Leiter des Bezirksarchivs von Třeboň und selbst passionierter Fischer:

Václav Rameš  (Foto: Staatliches Denkmalamt)
„Früher war es Tradition, dass auf den Stufen, die zum Teich hinunterführen, rund 50 Frauen standen. Laken-Frauen nannte man die, weil jede von ihnen ein Laken in Händen hielt. Darin wurden die Fische vorsichtig von einer zur anderen nach oben weitergereicht. Oben auf dem Damm kamen die Fische dann in riesige Wasserbottiche und wurden mit Pferd und Wagen abtransportiert. Diese Laken-Frauen standen dort bei Wind und Wetter. Arme Frauen aus der Umgebung waren das. Und ab und zu verschwand auch mal ein Fisch ganz schnell unter einem Rock.“

Třeboňsko nennen die Tschechen die wunderschöne Wittingauer Teichlandschaft. Sie umfasst auf 700 Quadratkilometern an die 500 Teiche - eine uralte Kulturlandschaft. Schon im 12. und 13. Jahrhundert legten Mönche einige Teiche in der morastigen Gegend an. Seine erste Blütezeit erlebte das Fischereiwesen unter Karl IV., aber erst die Herren von Rosenberg perfektionierten es technisch und machten bis ins 16. Jahrhundert ein großes Geschäft daraus, erzählt Historiker Rameš:

Třeboňsko  (Foto: Pavel Rychtecký,  Creative Commons 3.0)
„Dokumente im Bezirksarchiv bezeugen, dass diese Karpfen sogar an den Päpstlichen Hof geliefert wurden, weil sie besonders groß und schmackhaft waren. Und wir sehen hier heute, was das für Kavenzmänner sind.“

Und das wird natürlich auch gefeiert. Nur hundert Meter weiter auf dem Damm spielt die Kapelle Švagrovanka auf. An vielen kleinen Ständen kann man hier alles probieren, was aus Karpfen, Wels und Zander zu zaubern ist.

Foto: Marek Čech,  Rybářství Třeboň a.s.
„Zanderfilet, Karpfen-Grieben, Wels-Würfel, Fischsuppe und Karpfengulasch“, bietet die Frau an ihrem Stand an. Dazu mundet natürlich am besten ein böhmisches Bier, das es gleich am Stand daneben gibt. Während es sich Einheimische und sogar aus Prag angereiste Besucher schmecken lassen, haben die Fischer am Ufer noch keine Zeit, ans Essen zu denken.

Der Zander ist inzwischen verladen. Jetzt geht es dem Karpfen an den Kragen. Da braucht es dann Technik: Ein riesiger Käscher an einem Elektro-Schwenkarm taucht zwischen die Fische, zieht an die 50 triefende Karpfen auf einmal heraus und lässt sie auf den Sortiertisch prasseln. Die kräftigsten Kerle von drei Kilo und mehr gleiten direkt auf die Waage und von dort in die Wassertanks auf den Lkws. Die anderen zappeln über eine lange horizontale Rutsche, wo schnelle Fischerhände sie ergreifen und - je nach Größe und Art - gekonnt in Bottiche werfen. Auf die Karpfen wartet nun die „Zwischenlagerung“ in Fischbecken, erklärt der technische Leiter Petr Sedláček und berichtet:

Jan Fischer  (links). Foto: Rybářství Třeboň a. s.
„Vor zwei Jahren war hier der Premier zu Besuch. Das war damals noch Herr Fischer, ein sehr distinguierter Mensch. Wir haben ihm das Abfischen gezeigt und er war begeistert. Aber bei uns ist die Politik ja so ein Chaos, immer wieder neue Gesichter. Die Fischerei hingegen hat lange Tradition, Fischteiche wird es wohl immer geben.“

Aber wie gelangt eigentlich in Tschechien der Fisch vom Teich auf den Tisch?


Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
Das Prager Einkaufsviertel Anděl. Kurz vor Weihnachten stehen sie überall in Tschechien auf Bürgersteigen und Plätzen: die Bassins und die Schlachtbänke. Hier bei Anděl hantiert David in weißer, blutbespritzter Schürze mit Messern hinter einem blutigen Tapeziertisch. Blut auch auf dem Kopfsteinpflaster. Einen Rettungssanitäter in seiner roten Jacke lässt das kalt - zwei große Karpfen gleiten gerade von der Schlachtbank in seine Plastiktüte, mit der er wieder im Krankenwagen verschwindet. Karpfenschlachter David hat allein an diesem Tag über 200 Fische gekonnt ins Jenseits befördert. Immer wieder muss er dafür mit bloßen Händen ins eiskalte Wasser greifen. „Halb so schlimm“, meint er. Das Fischfett an den Händen schütze vor der Kälte.

Foto: ČT24
Vor der Schlachtbank steht eine unglücklich dreinschauende ältere Dame:

„Ich wollte doch Fischköpfe kaufen, für die Suppe. Aber dafür müsste ich gleich den ganzen Fisch kaufen. Wir sind Heiligabend nur zu Zweit. Und für Fischsuppe braucht man pro Person zwei Fischköpfe. Aber vier ganze Fische kaufen, das werde ich nicht.“

David zieht unterdessen ein Vier-Kilo-Prachtexemplar aus dem Wasserbecken. Eine andere Kundin hält gebührenden Abstand und kneift die Augen zusammen:

„Ich habe ein bisschen Angst davor. Aber trotzdem esse ich ihn gern. Es ist eben ein Weihnachtsbrauch.“

Der Karpfen liegt unter Davids festem Griff auf der Schlachtbank und zappelt in böser Vorahnung: ...der Knüppel kracht auf die Karpfenstirn. Dann geht alles ruckzuck. David sticht in den Schwanz, wo die Nerven liegen; mit Mühe trennt er den Kopf ab, kratzt die Schuppen herunter und nimmt den noch immer zuckenden Fisch sofort aus. Ein grausames Schauspiel für die einen, eine Weihnachtstradition für die anderen.

Mit großen Augen steht die fünfjährige Anička vor dem Wasserbecken, streichelt die schuppigen Rücken und zupft ihrem Vater am Ärmel. „Gleich springt er“, ruft sie und freut sich wohl schon auf den eigenen Karpfen.

„Wir kaufen den Karpfen immer zwei Tage vor Heiligabend, stecken ihn in unsere Badewanne und können zwei Tage nicht duschen. Dann kriegt er eins auf die Nuss – das muss ich machen. Leider. Das ist eben Sache des Familienvaters. Danach wird der Karpfen ausgenommen, filettiert, paniert und gebraten. Und dann - essen wir ihn auf.“