„Ostalgie“ oder etwa Sehnsucht: Wie sehen die Tschechen heute den Kommunismus?

Es sind bereits 22 Jahre seit der Samten Revolution in der ehemaligen Tschechoslowakei vergangen. Am 17. November 1989 läutete ein Protestmarsch von Studenten im Prager Stadtzentrum den Sturz des Regimes ein – mehr als 40 Jahre nach der Machtergreifung durch die Kommunisten. Die Kommunistische Partei wurde jedoch nicht verboten und ist bis heute im tschechischen Parlament vertreten. Schon das wirft die Frage auf, wie sehr bei den Tschechen nostalgische Gefühle bestehen bei den Gedanken an die frühere ČSSR? Und ist die kommunistische Vergangenheit noch ein Thema in der tschechischen Gesellschaft?

„Bezirksverwaltung der 'K' Prag“  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
In Deutschland gibt es den Begriff Ostalgie. Filme wie „Sonnenallee“, aber auch Partys, bei denen Club-Cola ausgeschenkt wird und die Gäste in FDJ-Hemden kommen, lassen auf unernste Weise Erinnerungen an damals wach werden. Auch in Tschechien gibt es Ähnliches. Zum Beispiel feiern Fernsehserien von früher ihr „Comeback“, in den neunziger Jahren hätte kein Fernsehsender sie ausgestrahlt. Zu bester Sendezeit läuft beim öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen die Krimiserie „Malý pitaval z velkého města“ („Bezirksverwaltung der 'K' Prag“), bei der die Hauptfigur typische damalige Verbrechen löst: den Diebstahl „sozialistischen Eigentums“, unerlaubte Schwarzarbeit wie Autoreparaturen und anderes. Im Internet sind auch viele Zitate aus solchen Serien und Filmen im Umlauf. Doch gibt es eine tiefer gehende Sehnsucht nach den damaligen Zeiten?

Das Alltagsleben der Tschechen hat sich in den vergangenen beiden Jahrzehnten angeglichen an das der Menschen in Westeuropa. Man betreibt Gewerbe, studiert im Ausland, macht Urlaub am Meer, verfügt über Autos, Handys und Computer. In bestimmten Dingen haben die Tschechen sogar die Westeuropäer überholt – so liegt zum Beispiel die Zahl der Autos je Einwohner in Prag höher als in Berlin oder London. Der Wohlstand ist aber nicht das, was die Tschechen am meisten an der Zeit nach der Samtenen Revolution zu schätzen gelernt haben. Für die größten Errungenschaften halten sie vielmehr Freiheit, Rechtsstaat und Menschrechte, sagt der Soziologe Jan Hartl, Leiter des Meinungsforschungsinstituts Stem:

Jan Hartl
„Die meisten tschechischen Bürger glauben, dass ihre Rechte und Freiheiten im gegenwärtigen System gesichert sind. Etwa zwei Drittel der Bevölkerung haben diese Meinung. Viele Leute halten dies sogar für selbstverständlich und als dauerhaftes Kennzeichnen der Zeit. Diese Überzeugung ist so groß, dass die in der letzten Zeit diskutierten Bedrohungen, wie zum Beispiel die Schwächung staatlicher Souveränität durch die Europäische Union, laut unseren Umfragen fast nicht wahrgenommen werden. Mehr als die Hälfte der Befragten ist der Meinung, dass gerade die EU zur Durchsetzung von Menschenrechten beiträgt. Die Freiheit ist für die Tschechen einer der größten Erfolge der Entwicklung nach der Samtenen Revolution - im Unterschied zu anderen, viel problematischeren Bereichen.“



Foto: Barbora Němcová
Die starke Akzentuierung von Freiheit und Menschenrechten ist jedoch erst in den vergangenen zehn Jahren entstanden. In den 90er Jahren war den Menschen hierzulande eher die materielle Sicherheit wichtig, also der „volle Magen“. Hintergrund war der Rückgang der wirtschaftlichen Leistung und des Lebensstandards. Doch etwa seit der Jahrtausendwende steigen die Einkommen der Haushalte wieder, und der Wirtschaft ging es - zumindest bis zur Krise ab 2008 - immer besser. Deshalb bezeichnen immer mehr Tschechen ihr Land als reich. Die Menschen wissen, dass vieles bereits erreicht wurde und dass mehr Geld nicht auch mehr Glück bringt, so die Überlegungen von Jan Hartl:

„Wir kommen so langsam an einen Scheideweg, an dem die Menschen auch immaterielle, man könnte sogar sagen: geistige Werte suchen. Ihnen fehlt etwas Übergreifendes, das ihr Leben verankern könnte. Sie stellen sich viele Fragen, die bislang ohne Antwort bleiben - zum Beispiel ob das politische System Änderungen braucht, ob der Multikulturalismus das richtige Konzept ist, oder wie sich die Umweltprobleme lösen lassen. Auf diese Weise kann sich unsere Gesellschaft auch weiterentwickeln.“

Für diese Ansicht spricht auch, dass nostalgische Gefühle bei den Gedanken an die Zeit vor dem November 1989 wohl weniger werden. Am Besten sieht man dies an den Wahlergebnissen der Kommunistischen Partei, die die Zeiten des damaligen Regimes offen lobt. Bei den Parlamentswahlen 1992 bekam sie noch fast eine Million Stimmen, 2010 waren es nur 590.000. In den Landes- und Kommunalwahlen zeigt sich der gleiche Trend. Die kommunistischen Wähler sind vor allem Menschen, die vor 1989 zur Nomenklatur gehörten. Für junge Menschen ist so etwas wie Sehnsucht nach „guten, alten Zeiten“ meist unverständlich. Der Rundfunkmoderator Roman war damals 20 Jahre alt:

„Was mir zum Kommunismus einfällt, ist eine Beschränkung für den Kauf von Bananen. Jede Familie durfte nur ein Kilo kaufen. Wir waren aber vier Kinder. Und wenn meine Mutter mit uns ins Gemüsegeschäft kam, haben wir uns mit dem Verkäufer gestritten, weil wir mehr Bananen brauchten. Das ist meine Erinnerung.“

Für manche ältere Menschen ist jedoch der Vergleich der heutigen Zeit mit damals keine solch lustige Angelegenheit. Die gesellschaftlichen Änderungen haben auch negative Begleiterscheinungen. Die Rentnerin Hana Martanová war zwar nie Anhängerin der Kommunisten, doch die Gegenwart sieht sie nicht gerade rosig:

„Meiner Meinung nach war die Zeit vor der Samtenen Revolution nicht so schrecklich. Wie immer gab es schlechte, aber auch gute Seiten. Die Menschen waren sich einander näher und hatten auch ein einfacheres Leben. Es gab keine Arbeitslosigkeit, die Lebensmittel waren billiger. Heute kann man zwar alles kaufen, aber für manche ist es zu teuer. Vor allem den Rentnern geht es oft sehr schlecht.“

Die Einkommensschere zwischen Reich und Arm hat sich immer mehr geöffnet. So lag 1989 zwar der Durchschnittslohn bei etwa 3100 Kronen pro Monat, aber der Unterschied zwischen den Einkommen war sehr klein. Heute verdienen die Tschechen monatlich im Schnitt 24.000 Kronen (umgerechnet 960 Euro), aber zwei Drittel von der Menschen hierzulande müssen mit deutlich weniger Einkünften zurechtkommen. Vor allem wenn sie im Ruhestand sind. Die Altersrente beträgt durchschnittlich etwa 10.000 Kronen (umgerechnet 400 Euro), das ist so viel, wie die Monatsmiete für eine einfache Einzimmerwohnung in Prag beträgt. Wer nicht das Glück hat, ein Haus zu besitzen oder in einer älteren Wohnung mit staatlich regulierter Miete zu wohnen, muss extrem auf sein Geld achten. Und der Sparkurs der Regierung mit den Wirtschaftsreformen, die im kommenden Jahr in Kraft treten, bedeutet, dass die Gürtel noch einmal enger geschnallt werden müssen.


22 Jahre nach der Wende ist die kommunistische Zeit nur noch selten ein wichtiges Thema für die Tschechen. Es gibt aber Ausnahmen. In diesem Sommer hat das tschechische Parlament nach mehrjährigen Diskussionen das Gesetz über den so genannten Dritten Widerstand verabschiedet, also über den Widerstand gegen den Kommunismus. Aktive Gegner des Regimes beziehungsweise ihre Nachkommen werden nun eine einmalige finanzielle Entschädigung erhalten und einige von ihnen werden sogar als Kriegsveteranen anerkannt. Über das Gesetz wurde nicht nur zwischen Kommunisten und Nicht-Kommunisten gestritten, sondern es führte auch zu Streitigkeiten unter den Opfern des kommunistischen Regimes. So sollen durch das Gesetz auch zum Beispiel erstmals die Brüder Mašín gewürdigt werden. Sie haben sich Anfang der fünfziger Jahre den Weg in den Westen freigeschossen und dabei mehrere unschuldige Menschen umgebracht. Für den einen Teil der tschechischen Gesellschaft sind sie Helden, für den anderen Verbrecher. Der Historiker Petr Blažek findet:

Petr Blažek
„Ich sehe kein Problem, die Brüder Mašín als Widerstandskämpfer zu bezeichnen. Welche Methoden sie angewandt haben und welche Folgen das hatte, das ist eine andere Frage. Ich habe ihre Memoiren zur Veröffentlichung vorbereitet, deshalb habe ich mich intensiv mit ihren Taten und Ideen beschäftigt. Die Brüder waren davon überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg spontan sich fortsetzt und dass es keine andere Möglichkeit gibt, als mit der Waffe in der Hand für die Freiheit zu kämpfen. Das kommunistische Regime begann als erstes, Gewalt anzuwenden, die Gruppe um die Brüder Mašín hat nur darauf reagiert. Ja, es gab Überfälle auf Polizeistationen, und ich verstehe diejenigen, die damit nicht einverstanden sind. Doch dass es sich um Widerstand gehandelt hat, das steht für mich außer Frage.“

Nachdem im August dieses Jahres Ctirad Mašín in den USA gestorben war, wurde er mit allen Ehren beerdigt. An der Zeremonie nahmen auch mehrere Minister der tschechischen Regierung teil. Verteidigungsminister Vondra verlieh dabei den beiden Brüdern die höchste militärische Auszeichnung. Viele Leute protestierten dagegen, darunter auch Bischof Václav Malý, der in der kommunistischen Zeit mehrmals in Haft saß:

„Ich habe eine gewisse Distanz zu diesen Brüdern, und ihre Tätigkeit imponiert mir nicht. Zwei Sachen stören mich: dass sie keine moralischen Probleme mit der Ermordung ihrer Opfer hatten und dass sie nach ihrer Emigration nichts mehr für ihr Land geleistet haben. Auch während meiner Tätigkeit als Dissident habe ich den Namen Mašín nie gehört. Ich bewundere eher Leute, die im Exil die Beziehung zu ihrem Land aufrecht erhalten und sich bemüht haben, den Leuten hier zu helfen.“

Doch solche Diskussionen um die Bewertung historischer Ereignisse interessieren heutzutage nur noch wenige Tschechen.