„Tschechien droht, Zukunftsdebatte zu verschlafen“ - Politologe Schuster zum Atomkurs
In Deutschland ist das endgültige Aus für die Atomkraft beschlossen worden und ebenso in der Schweiz. Auch anderswo findet entweder ein Umdenken oder zumindest eine verstärkte Diskussion statt. Aber in Tschechien nicht. Hier scheint man sich nach wie vor an der Atomkraft festzuklammern. Über die Gründe, warum in Tschechien – nicht nur unter den Politikern, sondern auch in weiten Teilen der Gesellschaft - nach wie vor eine Art Atomkonsens besteht, dazu der Politologe und Radio-Prag-Mitarbeiter Robert Schuster.
„Böse Zungen behaupten, da stecke in erster Linie eine gute und äußerst effiziente Lobby-Arbeit der Energiekonzerne dahinter – vor allem natürlich des dominierenden Energiekonzerns ČEZ, dem die meisten großen Kraftwerke in Tschechien gehören. Von Seiten der Energiewirtschaft wird immer wieder damit argumentiert, dass ein Umschwenken bei der Herstellung von Energie Arbeitsplätze kosten würde – ein Argument, auf das Politiker sehr hören. Ein zweites Argument lautet: Wenn Tschechien auf den Atomstrom verzichten würde, dann käme der Staat, der an ČEZ beteiligt ist, um seine Dividenden. Das heißt, dann hat der Staat nicht mehr die Milliarden, mit denen er die Löcher im Haushalt stopfen kann. Wenn diese beiden Argumente nicht greifen, dann kommt ein weiteres Argument, das Totschlagargument: die Kosten. Und das lautet: Wenn die Tschechen saubere Energie haben wollen, dann müssen sie bereit sein dafür zu zahlen. Denn es koste etwas, Energie aus so genannten sauberen Quellen herzustellen. Ich glaube, spätestens da hört für die meisten Tschechen der Spaß auf. Es gibt dazu jedoch keine Umfragen. Aber wahrscheinlich würden die meisten schon sagen, dass ihnen das Hemd des billigen Stroms - auch Atomstrom - näher ist als ein Mantel aus alternativen Energiequellen.“
Auffällig ist ja, dass führende tschechische Politiker wie zuletzt Premier Petr Nečas auf dem Europäischen Nuklearforum in Prag, immer wieder mit der Souveränität Tschechiens argumentieren. Dass das Land alleine für seine Energiepolitik zuständig sei. Heißt das, Tschechien könnte künftig im Rahmen der EU alle Änderungen blockieren, die das Thema Energiepolitik europäisieren würden?„Das ist durchaus zu befürchten. Weil das größte EU-Mitgliedsland solch einen grundlegenden Wandel in seiner Energiepolitik vollzieht, werden früher oder später alle anderen 26 Mitgliedsländer reagieren müssen. Entweder denken sie um, oder sie stellen einen neuen Energiemix zusammen. Es wird also sicher ein gewisser Handlungsbedarf bestehen. In Tschechien ist das eine Befürchtung, weil ja die Europapolitik des Landes – leider, muss man sagen – schon seit Jahren von den Skeptikern dominiert wird. Die Skeptiker haben sich bisher oft ein Nischenthema herausgesucht, das sie dann aufgeblasen haben. Und die Europa-Befürworter haben immer erst im Nachhinein reagiert, sie hatten also immer eher eine defensive Strategie. In der Frage der Energiepolitik sieht das aus tschechischer Sicht dann so aus, dass jetzt erneut die deutsche EU – wegen Günter Oettinger als Energiekommissar – diktieren will, was man machen soll. Und da sagen die Tschechen nein. Deshalb muss man damit rechnen, dass die Tschechische Republik einiges blockieren wird. Vielleicht versucht sie auch, mit anderen mitteleuropäischen Staaten oder EU-Mitgliedsländern gemeinsame Sache zu machen. In Polen wird beispielsweise überlegt, das erste Atomkraftwerk zu bauen. Mit solchen Ländern könnte Tschechien überlegen eine Allianz zu schmieden gegen Deutschland und andere.“In Deutschland fahren die Grünen auch wegen des Unglücks von Fukushima derzeit bei den Wahlen Rekordergebnisse ein. In Baden-Württemberg gibt es den ersten grünen Landesherren. In Tschechien sind die Grünen im vergangenen Jahr hingegen aus dem Abgeordnetenhaus gewählt worden. Glaubst du, die Lage in Tschechien sehe anders aus, wenn die Grünen noch im Parlament wären? Und können die tschechischen Grünen nun unter Umständen aber vielleicht profitieren?„Schwer zu sagen. Wenn die nächsten Parlamentswahlen zum regulären Termin im Jahr 2014 stattfinden, dann ist der ´Fukushima-Effekt´ schon längst verflogen. Aber man darf nicht vergessen, dass die tschechischen Grünen 2006 nicht nur wegen ihrer Gegnerschaft zur Atomkraft ins Parlament gekommen sind, sondern wegen eines komplexen Politikentwurfs, bei dem die Gegnerschaft zur Nuklearenergie vielleicht ein Drittel ausgemacht hat. Der Rest waren vor allem Bürgeranliegen, auch der Kampf gegen Korruption. Wenn die Grünen also wieder die Fünfprozenthürde überspringen wollen, dann müssen sie schon auch mit anderen Themen als dem Nein zur Atomkraft punkten. Tatsache ist aber, dass gerade jetzt die grüne Stimme im tschechischen Parlament und damit auch in der tschechischen Öffentlichkeit fehlt. Es entsteht der Eindruck, dass es eine Art Atomkonsens in beiden Kammern des Parlaments gibt, praktisch alle wichtigen Parteien von links bis rechts für die weitere Nutzung der Atomkraft sind. Da läuft Tschechien Gefahr, wieder einmal eine wichtige Zukunftsdebatte zu verschlafen, weil einfach eine Gegenseite fehlt, die die Grünen stellen könnten. So ist das vor Jahren schon bei der Rentenreform passiert, bei der Diskussion, wie man zukünftig das Rentensystem finanzieren kann. Da wurde auch viel verschlafen. Dieses Szenario könnte sich beim Thema Atomkraft und alternative Energien wiederholen.“Dieser Beitrag wurde am 30. Mai 2011 gesendet. Heute konnten Sie seine Wiederholung hören.