„M“ - Mandelinka bramborová, der Käfer der Imperialisten
Politische Schauprozesse waren nicht die einzigen „Instrumente“, mit denen die kommunistischen Herrscher in der Tschechoslowakei ihre Macht in den Anfangsjahren sichern wollten. Sogar ein bis dahin ideologisch neutraler Käfer wurde dazu eingesetzt. Am 28. Juni 1950 entert die Leptinotarsa decemlineata die politische Bühne des Landes. Es handelt sich auf Tschechisch um die „mandelinka bramborová“, auf Deutsch um den Kartoffelkäfer. Der Schädling und seine Larven können innerhalb kurzer Zeit ganze Kartoffelfelder kahl fressen. In der Tschechoslowakei wurde er aber auch als Träger der feindlichen Ideologie des Westens identifiziert. Und zwar nur einen Tag nach der Hinrichtung der tschechischen Parlamentarierin Milada Horáková.
„Unsere Werktätigen, Bauern und mit ihnen das ganze Volk schauen täglich mit freudevoller Hoffnung sowie Besorgnis des vorsichtigen Landwirts zu, wie das Getreide reift, wie die Ernte von Hackfrüchten und Futterpflanzen ausfallen wird. Unter Teilnahme unseres Volkes bereiten sich die Landwirte auf die zweite Ernte unseres ersten Planjahrfünfts vor.“
Doch die Ernte sei ernsthaft gefährdet, hieß es weiter in der Regierungserklärung und unisono auch in allen Medien. Es war der Auftakt zu einem Propaganda-Feldzug. Die Hauptrolle spielte der Kartoffelkäfer, der sich damals nicht nur hierzulande, sondern auch in Polen und der DDR stark vermehrt hatte. Offiziellen Stellen zufolge glaubte man, den Kartoffelkäfer in den Jahren zuvor bereits ausgerottet zu haben, und zwar unter anderem dank der Nutzung von umfassenden Erfahrungen aus der Sowjetunion, aber auch - so die Regierungserklärung wörtlich - „dank der entgegenkommenden, brüderlichen und andauernden Hilfsbereitschaft sowjetischer Experten“. Für viele einheimische Landwirte bedeutete der Käfer wirklich ein Unheil, bestätigt die Historikerin Pavlína Formánková:„Die Landwirte waren selbstverständlich unglücklich und besorgt um die Ernte. 1950 war der Kartoffelkäfer in der Tat stark verbreitet. Das Sammeln der Kartoffelkäfer auf den großen Feldern, die infolge der Kollektivierung der Landwirtschaft entstanden, galt im Prinzip als allgemeine Bürgerpflicht. Es wurde daher auch kontrolliert, wer an der Sammelarbeit teilnahm und wer nicht.“
Besonders die westlich und südwestlich gelegenen, also an die Besatzungszonen Westdeutschlands angrenzenden Gebiete der Tschechoslowakischen Republik seien von den Kartoffelkäfern befallen worden, hieß es offiziell. Die Insektenart bedrohte einen Grundpfeiler der kommunistischen Macht: die Planbarkeit des Wirtschaftsgeschehens, zu der auch die Landwirtschaft gehörte. In der Zeit des Kalten Kriegs gelang des dem Regime, aber den Käfer zu instrumentalisieren. In einer Regierungserklärung stand:„Der gefährliche Schädling wurde künstlich, zielbewusst und mithilfe von Wolken und Wind von westlichen Imperialisten sowie von deren Agenten in unser Land eingeschleust.“
„Die westlichen Imperialisten“ sollten die nun als „amerikanische Käfer“ bezeichneten Insekten sogar im Dunkeln in kleinen Schachteln und Fläschchen ins Land transportiert haben. Die Regierung versprach, auf diese „Schandtat“ würden die Werktätigen mit einem massiven und breit angelegten Kampf reagieren, um …:„…das wahre Gesicht der Imperialisten und Kriegshetzer sowie ihre perversen Agenten zu enthüllen und dadurch auch alle Feinde von der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen zu überzeugen. Dadurch wird ein Beitrag zur Stärkung des mächtigen Bollwerks des Friedens geleistet, mit der großen Sowjetunion an der Spitze.“
Am 30. Juni 1950 erläuterte das Organ der Staatspartei - die Tageszeitung Rudé právo - der Bevölkerung die „wahren Ziele“ des feindlichen Westens:„Den amerikanischen Kriegshetzern sind alle Mittel recht, um das internationale Lager des Friedens und Fortschritts zu schwächen. Ihre jüngste böswillige /destruktive Tat - das Aussetzen des Kartoffelkäfers auf unseren Feldern - ist nur eine weitere Provokation der amerikanischen Imperialisten. Die Amerikaner scheuen nicht davor zurück, sich mit Verrätern, Nazimördern und Kollaborateuren zusammenzutun. Der Kartoffelkäfer ist der neue Verbündete der Imperialisten. Ihr Ziel ist es, den friedlichen Aufbau des Sozialismus zu verhindern und das unaufhaltsam nahende Ende der imperialistischen Herrschaft mit allen Mitteln abzuwenden. Den Amerikanern sind die sich kontinuierlich verbessernde Wirtschaftslage in unserem Land, die steigenden Monatslöhne und die sinkenden Preise ein Dorn im Auge. (….) Sie hassen die geschlossene Front der Volksdemokratien mit der großen Sowjetunion an der Spitze.“
Die Kampagne nutzte selbstverständlich auch die Wirkungskraft von Kinobildern. Landesweit tauchte der amerikanische Käfer nun in der Filmwochenschau auf. Der damaligen Propaganda gelang es dabei zudem in einem Film, den amerikanischen Käfer mit den politischen Gerichtsverfahren in Verbindung zu bringen. Pavlína Formánková hat sich in ihrer Doktorarbeit mit den Propagandakampagnen in der kommunistischen Tschechoslowakei von 1948 bis 1956 befasst:„In diesem Film, von dem im Auftrag der kommunistischen Machthaber viele Kopien gefertigt wurden und der in vielen Kinos zur gleichen Zeit lief, hieß es: Man habe kurzen Prozess mit Milada Horáková gemacht und werde auch kurzen Prozess mit dem amerikanischen Käfer machen.“
Ein Vater und sein kleiner Sohn hätten etwas bemerkt, hieß es in dem Film. Die beiden bücken sich und finden einen Kartoffelkäfer auf dem Boden. Das sei er - das jüngste verbrecherische Instrument der amerikanischen Barbarei.Die Medienkampagne um den „Amikäfer“ spielte sich aber auch vor dem Hintergrund eines weltpolitischen Ereignisses ab. Losgetreten wurde sie nur drei Tage, nachdem die nordkoreanische Armee den 38. Breitengrad in Richtung Süden überschritten hatte. In die Geschichte ist dies als Beginn des Korea-Krieges eingegangen. Pavlína Formánková über die damalige Argumentation der Propaganda:
„´Die US-Mörder´ werfen ihre Bomben über Koreas Städten ab, während die friedliebenden Menschen hierzulande gegen den Kartoffelkäfer zu kämpfen haben. Etwas später mithilfe von sowjetischen Flugzeugen, die nicht nur bei uns, sondern auch in Polen und der DDR die befallenen Felder aus der Luft besprühen. Auch sollten Presseartikel den Lesern bewusst machen, in welchem Kontrast die friedliche Hilfeleistung zur Ernterettung durch die Sowjets mit dem barbarischen Vorgehen der Imperialisten in Korea stehen.“Die Spannungen in den Ost-West-Beziehungen erreichen zu dieser Zeit ihren Höhepunkt. Für die Interpretation des Konflikts wurden die tschechoslowakischen Medien von offiziellen Stellen angewiesen. Das Protokoll einer Sitzung der „Kommission für die Aktionen gegen den Kartoffelkäfer“ vom 18. Juli 1950:
„Bei allen Suchaktionen ist es notwendig, auf den politischen Zusammenhang des Kampfes gegen den Kartoffelkäfer mit den Aktionen der Imperialisten in Korea zu verweisen.“
Und so gab es in der Presse wochenlang nebeneinander Berichte über zwei Schlachtfelder zu lesen - über den Koreakrieg und über den tschechoslowakischen Krieg gegen den Kartoffelkäfer. Darauf, wie sich die Verbindung der beiden Themen auf das Vokabular sowie den Stil von Regierungserklärungen, Presseartikeln, Karikaturen oder Plakattexten auswirkte, verweist der verstorbene Sprachwissenschaftler Vladimír Macura in seiner Studie mit dem Titel „Das Goldene Zeitalter“ (Zlatý věk). Es habe ihn an die Mobilmachung in Kriegszeiten erinnert, so Macura. In den Texten wimmelte es von „Feinden“, „Agenten des Westens“, „westlichen Imperialisten“, „Kriegsanstiftern“ und dergleichen mehr. Und auch vor der Kinderliteratur wurde kein Halt gemacht. In seinem Buch mit dem Titel „Über den bösen Käfer Kartoffelkäfer“ schrieb damals Ondřej Sekora, Autor des von allen Kindern hierzulande geliebten Buches über den Ameisenferdl:
„Schaut bloß! So viele Gäste kommen aus dem Westen zu uns! Holterdiepolter! Und wie es ihnen bei uns gefällt! Schon halten sie Ausschau nach unseren Kartoffelfeldern, um sich hier anzusiedeln. Ach herrje, würde es ihnen gelingen, die ganze Kartoffelernte bei uns zu vernichten, da könnte man schon den Jubel hören: ´Wir haben die Aufgabe erfüllt, die uns die Herren im Westen gegeben haben. In der Tschechoslowakei wird es keine Kartoffeln geben!´“
Abschließend hieß es:
„Unsere Teller werden erst dann außer Gefahr sein, wenn wir den letzten Kartoffelkäfer vernichtet haben. Und die Welt, die wird durchatmen, wenn auch die letzten Feinde des Friedens paralysiert sind.“
Das Geschehen der 1950er Jahre in der Tschechoslowakei setzt die Historikerin Pavlína Formánková in den folgenden Rahmen:
„Man muss sich dessen bewusst werden, dass dies in einer Zeit geschah, die Feindbilder gebraucht hat. Die Welt ist in West und Ost geteilt, dazwischen der Eiserne Vorhang. Die herrschenden Kommunisten liquidieren jegliche Opposition - die demokratischen Parteien, die Kirchen oder die freien Unternehmer. Überall werden Säuberungen durchgeführt und abertausende Menschen verlieren wegen ihrer Herkunft oder wegen ihrer Meinung ihren Arbeitsplatz. Den Parteifeind finden die Kommunisten bald in den eigenen Reihen. Es beginnen monströse Schauprozesse gegen Kommunisten, also gegen Menschen, die noch wenige Jahre zuvor an der Propaganda beteiligt waren.“
Und der Kartoffelkäfer alias Mandelinka bramborová? Er überlebte hierzulande längere Zeit, wenn auch nicht mehr direkt auf den Kartoffelfeldern. In den Fibeln für die ABC-Schützen stand das Bild des Käfers eine Zeitlang für den Buchstaben „M“. Darunter war zu lesen: M – Mandelinka bramborová, der Käfer der Imperialisten.