„Nur auf Kosten des öffentlichen Sektors“ – Václav Pícl über den größten Gewerkschaftsstreik seit 1989
Am Mittwoch sind in Tschechien an die 140.000 Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst in Streik getreten. Auch wenn der Streik letztlich nur in sehr geringem Maße das öffentliche Leben beeinflusst hat, so war es doch eine für tschechische Verhältnisse ungewöhnlich hohe Beteiligung. Über die Hintergründe des größten Gewerkschaftsstreiks seit 1989 hat sich Silja Schultheis mit Václav Pícl unterhalten, dem Vize-Vorsitzenden des größten Gewerkschaftsdachverbandes (ČMKOS) in Tschechien.
„Mit dem Streik wollten wir gegen die restriktiven Maßnahmen der Regierung protestieren, die Lohnkürzungen von zehn Prozent für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst vorsehen. Außerdem sind wir nicht einverstanden damit, dass die Regierung die Kriterien für die Lohnbemessung verändern will. Demnach sollen die Arbeitnehmer künftig nicht mehr nach Dienstjahren, sondern nach Leistung bezahlt werden. Wir sehen nicht ein, dass Defizite im Staatshaushalt nur auf Kosten der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst ausgeglichen werden.“
Deutliche Einsparungen im öffentlichen Sektor gehörten zum Wahlprogramm der neuen Regierung Nečas, wurden also auch von den tschechischen Wählern so gewollt. Glauben Sie wirklich, dass Sie an dieser Grundsatzentscheidung etwas ändern können? Oder geht es Ihnen bei dem Streik mehr um eine symbolische Geste?„Wie schon gesagt, es geht uns darum, unseren Protest auszudrücken und ein Signal zu geben. Wir wollen, dass die Defizite im Staatshaushalt von allen tschechischen Arbeitnehmern mitgetragen werden, nicht nur von den Angestellten im öffentlichen Dienst. Natürlich sind wir uns im Klaren darüber, dass die Sparpläne der neuen Regierung schon vor den Wahlen bekannt waren. Aber von der veränderten Lohnbemessung war damals nicht die Rede. Nach der neuen Regelung werden die Angestellten im öffentlichen Dienst ab Januar nicht mehr wissen, nach welchem Tarif sie bezahlt werden, wenn nicht mehr das Dienstalter zugrunde gelegt wird. Und das bedeutet de facto, dass manche Beamte noch viel höhere Lohneinbußen haben werden - im schlimmsten Fall bis zu 40 Prozent. Wir waren bereit, mit der Regierung über die Lohnbemessung zu verhandeln – aber wir wollten, dass vorher die Auswirkungen auf die einzelnen Lohngruppen analysiert werden und dass das Gesamtbudget für den öffentlichen Dienst solche Kürzungen zulässt.“
Die Regierung wirft den Gewerkschaften wiederum vor, dass sie nicht kompromissbereit sind. Was wäre denn Ihr Alternativvorschlag? Daran, dass im öffentlichen Sektor gespart werden muss, gibt es ja keinen Zweifel…„Die Verhandlungen mit der Regierung sind so verlaufen, dass die Regierung mit ihrem Vorschlag kam und erwartet hat, dass die Gewerkschaften ihm zustimmen. Über Kompromisse in irgendwelcher Form wollte sie nicht mit uns verhandeln. Wir hatten eine Einfrierung der Gehälter vorgeschlagen. Aber wenn es schon zu Kürzungen kommen muss, dann könnten sie wenigstens gemäßigter ausfallen – so wie in anderen Ländern auch. Nicht gleich eine Kürzung um zehn Prozent, sondern schrittweise – zuerst fünf Prozent und dann nach einem Jahr weitere Kürzungen. So machen es die Politiker mit ihren Gehältern ja auch – die werden auch zunächst um fünf Prozent gekürzt, nicht gleich um zehn.“
Wenn Sie sagen „Wie in anderen Ländern“– gibt es irgendwelche Staaten, die für Sie vorbildhaft sind in puncto Einsparungen im öffentlichen Sektor? Das ist ja europaweit ein wichtiges Thema…„In anderen Ländern gibt es zwar auch Einsparungen, aber es wird auch dagegen demonstriert, da sind wir ja nicht die einzigen. Aber nochmal: Wir meinen, dass die Regierung die Lohnkürzungen schrittweise hätte einleiten können. Und dass sie sich nicht nur um Kürzungen kümmern sollte, sondern vielmehr noch um höhere Einnahmen. Durch die Vorgängerregierung gab es Milliarden hohe Einbußen im Staatshaushalt – durch Steuersenkungen, unvorteilhafte öffentliche Aufträge, Steuerflucht, die wirtschaftliche Grauzone – gegen all das wird nichts unternommen. Und zu der Kritik, dass der öffentliche Sektor zu aufgebläht ist: Wir haben bereits der Vorgängerregierung vorgeschlagen, in den einzelnen Ressorts Audits durchzuführen, um zu prüfen, wo sich der Verwaltungsapparat entschlacken lässt. Den Apparat so zu lassen, wie er ist und den Arbeitnehmern für dieselbe Arbeit zehn Prozent weniger Gehalt zu zahlen, erscheint uns unlogisch und unseriös.“
Also würden Sie lieber höhere Arbeitslosigkeit in Kauf nehmen als Gehaltskürzungen?
„Das natürlich nicht (lacht). Ich will nur sagen, dass das Vorgehen falsch ist: Man kürzt den Leuten das Geld und der Arbeitsumfang bleibt gleich. Und das heißt dann Reform. Eine Reform wäre es, wenn sich der Arbeitsaufwand verringern würde – und damit auch die Zahl der Angestellten. Die sollten anderswo beschäftigt werden – im Gesundheitswesen etwa, da gibt es großen Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften.“
Tschechische Unternehmer haben den Gewerkschaften vorgeworfen, dass der Streik verantwortungslos sei und darauf hingewiesen, dass die Unternehmer bereits seit 2008, zu Beginn der Krise, Lohnkürzungen in Kauf nehmen. Würden Sie selbstkritisch sagen, dass die Gewerkschaften etwas unflexibel sind, sich an die Finanzkrise anzupassen?„Ich denke, das kann man nicht vergleichen. Natürlich ist es im Produktionsbereich zu Lohnsenkungen gekommen – aber auch zu einer niedrigen Beschäftigtenzahl. Das war objektiv gegeben durch weniger Aufträge und eine infolgedessen niedrigere Produktion. Damit haben die Unternehmer aber nicht die Defizite im Staatshaushalt ausgeglichen, sondern lediglich die Probleme in ihrer Branche gelöst. Und von uns wird erwartet, dass mit unseren Gehältern die Schulden des Staates bezahlt werden. Das ist etwas völlig anderes. Vor allem aber ist es im öffentlichen Sektor nicht zu einer Reduzierung des Arbeitsumfangs gekommen. Wenn die Regierung überzeugt davon ist, dass der öffentliche Sektor aufgebläht ist, dann soll sie ihn entschlacken. Aber dabei bitte schön bedenken, dass durch die neue Situation mehr Beamte erforderlich sind: Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, braucht man mehr Beamte, die sich um die Arbeitslosen kümmern.“
Was erhoffen Sie sich konkret von dem Streik?„Zumindest sollte die Tarifbemessung so bleiben wie sie ist. Andernfalls herrscht für die Mehrheit der Arbeitnehmer eine große Unsicherheit, was sie im nächsten Jahr erwartet, nach welchem Tarif sie entlohnt werden. Und für Arbeitnehmer, die im Endeffekt Lohnkürzungen in Höhe von 20-30 Prozent hinnehmen müssen, kann das sehr kritisch werden.“