Kulturelles Erbe der deutschsprachigen Bewohner der böhmischen Länder bekommt eigenes Museum
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges lebten in Böhmen und Mähren über drei Millionen Deutsche, etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Der Rest waren überwiegend Tschechen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die meisten Deutschen vertrieben. Ihre kulturellen Hinterlassenschaften wurden jahrzehntelang verschwiegen oder durch die ideologische Brille dargestellt. Viele – vor allem jüngere Tschechen – wissen deshalb heute kaum noch etwas über die Geschichte der Deutschen in ihrem Land. Ein Museum, das derzeit in Ústí nad Labem / Aussig an der Elbe entsteht, soll das ändern.
„Unsere große Aufgabe ist es, die bisher noch fehlenden grundlegenden Richtlinien, eine grundlegende Interpretation und einen grundlegenden Konsens zu finden, wie dieser Teil unserer Geschichte zu verstehen ist. Wir halten das für einen bereichernden Blick auf unsere eigene Geschichte, und wir halten das für eine Aufgabe von uns Tschechen, um unsere Geschichte besser verstehen“, so Blanka Mouralová, die Direktorin des Collegium Bohemicum.
Zu diesem Zweck wurde ein wissenschaftlicher Beirat gegründet, er soll die Konzeption des Museums ausarbeiten. Den Beirat bilden etwa 20 Personen, darunter anerkannte tschechische Historiker, Kunsthistoriker und Politologen, aber auch Experten aus Deutschland und Österreich. Die tschechische Kunsthistorikerin Milena Bartlová ist Mitglied des Beirats:
„Vielleicht sind es viele von uns nicht gewohnt, dass ein Museum eine wissenschaftliche Einrichtung ist. Und dieses Museum, das eigentlich fast aus dem Nichts entsteht und ein Thema behandelt, das nicht geläufig ist, muss eine fundierte wissenschaftliche Grundlage haben. Vor allem deshalb, weil man sich hier auf einem sehr unsicheren Terrain bewegt, das von einer Vielzahl von Stereotypen bedingt wird, die sowohl auf tschechischer als auch auf deutscher Seite weiter bestehen. Das Museum wird in hohem Maße eine Bildungsfunktion erfüllen, möglicherweise mehr als wir das bei anderen Museen gewohnt sind. Wir wollen zeigen, dass die Geschichte und die Kultur der deutschsprachigen Bewohner der böhmischen Länder unsere gemeinsame Geschichte sind und nicht nur die ihrige.“ Das Museum ist keines der „Sudetendeutschen“. Diese Bezeichnung existiert erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Viele deutschsprachige Bewohner fühlten und bezeichneten sich als Deutsche oder Österreicher, andere wiederum als Böhmen oder Deutschböhmen. Der thematische Rahmen des Museumskonzepts ist daher weit gesteckt, erklärt Blanka Mouralová:„Wir definieren einen Deutschen über seine Sprache. Das heißt, es ist ein Museum der Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Bewohner der böhmischen Länder. Wir suchen nach keiner anderen Definition, etwa einer des Blutes. Wir wollen ein modernes Museum sein, das zu solchen Kategorien nicht mehr zurückkehrt. Eine Frage kann aber sein, ob unter das Museumskonzept auch die deutschsprachigen Juden fallen, ob darunter auch viele tschechische Vertreter der so genannten Nationalen Wiedergeburt des 19. Jahrhunderts fallen, die einen Teil ihrer Werke auf Deutsch geschrieben und publiziert haben. Die Antwort ist: Ja! Die Richtschnur ist wirklich die Sprache.“
Zwei Stockwerke mit einer Fläche von insgesamt 1500 Quadratmetern werden dem Museum in dem restaurierten Gebäude des Stadtmuseums von Ústí zur Verfügung stehen. In den ersten drei Räumen will man an das Thema heranführen, dann wird der Besucher vor einen Wegweiser gestellt, der das Jahr 1848 markiert. Dieses Jahr spielt eine zentrale Rolle im Museumskonzept, sagt Blanka Mouralová:
„Wenn wir mit dem Besucher vom Jahr 1848 in Richtung 20. Jahrhundert gehen, dann können wir damit arbeiten, was die Besucher üblicherweise im Kopf haben: dass nämlich Sprache irgendwie an eine kulturelle und politische Identität und an die Zugehörigkeit zu einer klar definierten Gruppe gebunden ist. Das ist etwas, was seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bis in die neuere Zeit gilt. Es gilt aber immer weniger, je weiter man vom Jahr 1848 den Zeitstrahl rückwärts verfolgt, gewissermaßen entgegen der Geschichte, bis ins 13. Jahrhundert. Der Besucher wird so allmählich feststellen, dass die sprachliche Grenze immer weniger sichtbar ist.“ Den Aufbau der eigentlichen Sammlung, die die Räume des Museums mit Leben füllen soll, koordiniert Jan Šícha aus der Mitteleuropa-Abteilung des tschechischen Außenministeriums:„Diese Aufgabe ist sehr abenteuerlich. In tschechischen Museen gibt es schließlich keine Angaben, die Auskünfte geben wie ‚Diesen Gegenstand stellte eine Person her, die Deutsch sprach.’“
Deshalb sei eine Zusammenarbeit mit verschiedensten Museen in Tschechien wichtig, so Šícha. Es gehe darum Informationen auszutauschen, gemeinsam Gegenstände zu untersuchen, die eventuell als Exponate dienen könnten. Oft tauchen geeignete Objekte zufällig auf. Šícha nennt das Beispiel einer großen Kiste voll mit Seife. Sie wurde in diesem Jahr bei der Renovierung eines ehemals von Deutschen bewohnten Hauses in Děčín / Tetschen gefunden. Die Seifenkiste war auf dem Dachboden versteckt, gemeinsam mit einem Familienfoto und einem Haufen Unterwäsche.
„Wir wissen nicht, was jemanden dazu verleitet hat, diese Dinge zu verstecken. Aber es stellt sich die Frage: ‚Was würden wir verstecken, wenn wir unser Haus verlassen müssten?’ Wir kommen damit zu einem menschlichen Aspekt. Die Besucher werden mit Fragen konfrontiert: Wo finden wir heute die Deutschen in den böhmischen Ländern? Finden wir sie auf dem Dachboden? Finden wir sie in der deutschen Minderheit in der Tschechischen Republik? Finden wir sie in Deutschland, in Österreich oder anderen Ländern? Finden wir sie in der Architektur oder vielleicht im Geschmack von Becherovka und so weiter...?“, so Šícha. Der menschliche Aspekt soll auch deutlich werden im Nachbau eines Aussichtsturms im zweiten Stockwerk. Blanka Mouralová erklärt seine symbolische Bedeutung:„Es ist in Tschechien wenig bekannt, dass die früheren deutschen Bewohner der böhmischen Länder auf die Aussichtstürme im Grenzgebiet auf bayerischer oder österreichischer Seite stiegen, um in ihre alte Heimat zu schauen. Das war eine der wenigen Möglichkeiten, in gewisser Weise eine Verbindung mit dem alten Heimatland herzustellen. Das hat eine menschliche Komponente, da spielt die Politik nicht so eine große Rolle, aber gerade diese menschliche Komponente sollte in unserer Ausstellung eine Rolle spielen.“
Die Kunsthistorikerin Milena Bartlová glaubt, dass gerade solche - gemeinhin noch unbekannten - Dinge das Museum spannend machen werden:„Wir nehmen an, dass die meisten der Besucher von beiden Seiten der heutigen Grenze Dinge entdecken werden, von denen sie keine Ahnung hatten, die ihnen niemals jemand gesagt hat oder nach denen zu fragen ihnen niemals eingefallen ist.“
Das Museum zur Geschichte und Kultur der deutschsprachigen Bewohner der böhmischen Länder in Ústí nad Labem wird nicht nur die erste Dauerausstellung zu diesem Thema in Tschechien beherbergen. Es handelt sich außerdem um eines der größten und teuersten tschechischen Museumsprojekte überhaupt. Das Stadtmuseum von Ústí wird derzeit eigens dafür restauriert. Das Gebäude soll im Juni 2011 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zur Eröffnung wird das Collegium Bohemicum das Museumskonzept in architektonischen Entwürfen präsentieren und Neugier wecken auf die Ausstellung zum deutschen Kulturerbe. Die Vernissage findet voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte 2012 statt.