Von der Politik zu Fall gebracht: Jan Kaplickýs „Auge über Prag“

Jan Kaplickýs Entwurf für den Neubau der Nationalbibliothek

Es ist wahrlich eine unendliche Geschichte und wir haben bereits mehrmals darüber berichtet: Die Rede ist vom Neubau der Nationalbibliothek auf der Prager Letná-Höhe. Vor drei Jahren hat der mittlerweile verstorbene Jan Kaplický den Architektenwettbewerb gewonnen, in diesem Jahr sollte der spektakuläre Neubau eröffnet werden. Doch das Projekt hat sich im politischen Filz der tschechischen Hauptstadt verstrickt, nun scheint es endgültig in der Schublade gelandet zu sein. Wir haben Experten zum Stand der Dinge befragt.

Oft war in der Vergangenheit über Jan Kaplickýs Bibliotheks-Entwurf „Auge über Prag“, der wegen seiner ungewöhnlichen Form und der grün-gold-violetten Außenhülle bald den Spitznamen „Blob“ oder „Krake“ bekam, zu hören: Toll, aber bitte nicht auf der Letná-Höhe, in Sichtweite der Prager Burg. Doch für den Architekturhistoriker Zdeněk Lukeš ist gerade die Letná-Höhe besonders geeignet als Bibliotheksstandort:

Jan Kaplickýs Entwurf für den Neubau der Nationalbibliothek
„Das ist der ideale Ort, für welche Bibliothek auch immer. Auch wenn ein anderer Entwurf den Wettbewerb gewonnen hätte, würde ich ihn genauso unterstützen. Der Ort liegt auf halbem Weg zwischen den beiden größten Universitätsvierteln, also der Innenstadt und Dejvice. Außerdem würde die Bibliothek direkt an der grünen Metro-Linie liegen. Es war sogar einmal ein Aufgang aus der Station Hradčanská direkt auf die Letná-Ebene gedacht, wo seinerzeit die großen Aufmärsche abgehalten wurden. Zudem gibt es eine Straßenbahnhaltestelle in unmittelbarer Nähe und einen Busbahnhof. Und es wird dort gerade eine große Tiefgarage gebaut.“

Auch die von den Bibliotheks-Skeptikern stets ins Treffen geführten Denkmal- und Naturschutzargumente lässt Architekturhistoriker Lukeš, der selbst seit Jahren auf der Letná wohnt, nicht gelten:

„Dieses Grundstück war immer bebaut. Daher gilt dafür kein Grünraumschutz. Im Bebauungsplan war etwa jahrelang ein Studentenheim vorgesehen. Die Fläche war stets für ein Bauwerk mit kultureller oder sakraler Nutzung reserviert. In den 1990er-Jahren wollte man dort dann einen Konzertsaal bauen. Als dann die Idee aufkam, dort eine Bibliothek zu bauen, dachte ich mir: toll! Stellen Sie sich nur vor, die Studenten leihen sich dort eines Tages Bücher aus und setzten sich vor der Bibliothek auf die Wiese oder gehen damit in die angrenzenden Letná-Gärten. Ich habe das in vielen Ländern gesehen. Die Verbindung von Bibliothek und Park ist ein wesentlicher Faktor. Das macht aus der Letná-Höhe einen idealen Standort für die Bibliothek.“

Filmplakat zum Film 'Auge über Prag'
Neben vielen Gegnern, die vor allem in den politischen Reihen des Prager Rathauses und auf der Prager Burg zu finden sind, hat der Entwurf Jan Kaplickýs auch eine große Zahl von Anhängern. Bereits in der Vergangenheit haben sie mehrmals vor dem Prager Rathaus und auf dem Altstädter Ring demonstriert und sie wollen nicht aufgeben. Dazu beitragen, dass die Diskussion um das „Auge über Prag“ nicht verstummt, kann auch der gleichnamige Dokumentarfilm der jungen Regisseurin Olga Špátová, die das Projekt von Anfang an mit der Kamera begeleitet hat:

„Ich habe ihn zwar nur aus der Ferne im Prager Rathaus kennen gelernt, aber auf mich hat Oberbürgermeister Pavel Bém zuerst keinen schlechten Eindruck gemacht. Es ist traurig zu sehen, was Macht und Geld aus den Leuten machen. Ich bin froh, dass ich mich in dieser Sache weiter engagieren kann und dass auch dank meines Films und der Ausstellung im Zentrum DOX weiter über Kaplickýs Bibliothek gesprochen wird.“

Olga Špátová
Die Produzentin des Films, Kaplickýs Witwe Eliška, hofft ebenfalls noch auf eine Realisierung des Projektes:

„Pavel Bém hat selbst in einer Broschüre über die Nationalbibliothek geschrieben, dass so ein öffentliches Gebäude die Unterstützung der Politik braucht. Und betont, dass er dafür ein Grundstück zu einem symbolischen Preis zur Verfügung stellen will. Dann war auf einmal alles anders. Ich habe Bém zum ersten Mal bei dem Gespräch mit meinem Mann getroffen. Das ist auch im Film zu sehen. Es waren die Leute aus dem Rathaus, die angerufen haben und gesagt, der Oberbürgermeister will sich mit meinem Mann treffen. Aber die ganze Diskussion war entkräftend. Im Film sieht man ja diese ganzen Gesten und Grimassen. Das sagt wahrscheinlich mehr aus, als alle seine Worte… Jetzt sagt Bém in der Zeitung, wenn sich ein Grundstück findet und ein Investor, dann wird die Stadt Prag den Bibliotheks-Neubau unterstützen…“

Eliška Kaplický Fuchsová  (Foto: Tomáš Zezulka,  www.isifa.com)
Dabei war die Finanzierung des Bibliotheks-Neubaus bereits gesichert und die Stadt Prag hatte der Nationalbibliothek das Grundstück auf der Letná-Höhe zu einem Sonderpreis versprochen. Dort wenden nun wieder Straßenbahnen; die seinerzeit kaum benutzte und als überflüssig erachtete Schleife sei für den Betrieb unerlässlich, heißt es nun aus dem Rathaus. Und statt rund zwei Milliarden Kronen für einen Neubau der Nationalbibliothek auszugeben, investiert der tschechische Staat nun knapp drei Milliarden in die Sanierung des historischen Hauptquartiers im Klementinum und in den Ausbau des als Provisorium gedachten Bücherdepots in einem Industriegebiet am Prager Stadtrand. Architekturhistoriker Lukeš bezweifelt, dass Jan Kaplickýs Entwurf noch Chancen auf eine Realisierung hat:

„Ich bin da sehr skeptisch. Es gibt natürlich Beispiele, wo Entwürfe von verstorbenen Architekten realisiert worden sind. Ein Beispiel hier in Prag ist die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Karlsuniversität. Geplant hat sie Jan Kotěra, der ist aber 1923 gestorben. Sein Büroleiter, der Architekt Ladislav Machoň, hat das Gebäude dann fertig gestellt. Aber das war ein komplett fertig geplantes Projekt, das Grundstück war vorhanden und die Politik hat sich nicht eingemischt. Ein weiteres Beispiel ist die Grande Arche im Pariser Neubauviertel La Défense. Der dänische Architekt Otto von Spreckelsen hat den Wettbewerb gewonnen und ist dann gestorben. Sein Team hat seinen Entwurf dann umgesetzt. Das ist allerdings von seiner Form her ein relativ einfaches Gebäude.“

Kaplickýs „Auge über Prag“ sei hingegen noch in der Entwurfsphase, und ein Bibliotheksneubau sei technisch besonders aufwändig, gibt Lukeš im Gespräch mit Radio Prag zu bedenken. Er sei sich nicht sicher, ob Jan Kaplickýs Büro „Future Systems“ so einer Aufgabe gewachsen sei:

„Das Atelier hat sich aufgespalten. Ein Teil der Mitarbeiter ist zu Zaha Hadid gewechselt, ein Teil ist geblieben. Diese Leute müssen von irgendetwas leben. Die können nicht so einfach nach Prag übersiedeln und auf gut Glück weiterplanen, wenn es nicht einmal ein Grundstück gibt. Aber auch wenn sich die politische Situation radikal ändern würde, bleibt die Frage, ob die jungen Mitarbeiter von ‚Future Systems’ so ein komplexes Projekt zu Ende führen könnten. Ich bin mir da nicht so sicher.“


Jan Kaplický
Eine der engsten Weggefährtinnen von Jan Kaplický ist die tschechische Architektin Eva Jiřičná. Nach einem Praktikum in England konnte sie aufgrund der politischen Situation 1968 nicht mehr nach Prag zurückkehren. Sie war nicht nur Jury-Vorsitzende bei der Auswahl des Projektes für den Bau der Prager Nationalbiliothek, sondern auch jahrelang Kaplickýs Lebensgefährtin.

Frau Jiřičná, was macht das Werk von Jan Kaplický so einzigartig, so außergewöhlich?

„Ich denke, sein Werk ist dadurch so einzigartig, dass das ein Mann mit außergewöhnlichem Talent war. Solche Menschen kommen wirklich nur sehr selten auf die Welt. Und die zweite Sache ist, dass Jan unglaublich fleißig war. Ich kann mich nicht erinnern, dass er jemals nur dagesessen und nicht getan hätte. Natürlich, er ging gerne auf ein Glas Wein, um mit jemandem zu quatschen. Aber er hat sein ganzes Leben lang unglaublich viel gearbeitet. Ich habe ihn kaum einmal ohne Stift und Papier in der Hand gesehen. Dauernd hat er in Zeitschriften geblättert, um sich neue Inspirationen für seine Projekte zu holen. Jan Kaplický hat sein Talent mit der Liebe zu seiner Arbeit verbunden. Er war so glücklich, wenn er etwas geschafft hat. Ihm ist es gelungen, alle Widerstände und Misserfolge zu überwinden, auch wenn es für ihn bestimmt nicht leicht war. Das hat sein Schaffen wesentlich geprägt. Stellen Sie sich vor, als wir nach England gekommen sind, waren wir dort Ausländer und keiner hat uns gekannt. Wir hatten nur wenig zum Leben. Aber Jan Kaplický hat gearbeitet und gearbeitet und gearbeitet. Und damit hat er ungewöhnlich viele Dinge realisiert, die einfach … unglaublich sind, wenn wir heute darauf zurückblicken.“

Vor kurzem hat die tschechische Nationalbibliothek angekündigt, dass sie ihr historisches Hauptgebäude im Prager Klementinum sanieren und das Bücherdepot am Stadtrand erweitern will. Ist damit Jan Kaplickýs „Auge über Prag“ endgültig tot?

Jan Kaplickýs Entwurf für den Neubau der Nationalbibliothek
„Ich weiß nicht, was ‚tot’ bedeutet. Im Leben eines Architekten passiert es immer wieder, dass ein Entwurf in der Schublade verschwindet. Die Institution der Nationalbibliothek ist tief in der tschechischen Gesellschaft verwurzelt, auch und gerade in der jüngeren Generation, der die Zukunft gehört. Ob das nun Kaplickýs Projekt ist oder ein Gebäude, dass sich an seinen Entwürfen orientiert: Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich die Tschechische Republik eines Tages dazu durchringt, eine schöne Bibliothek zu bauen. Vielleicht mit einer anderen Regierung, vielleicht mit einem anderen Oberbürgermeister. Jan hat einen großen Beitrag dazu geleistet, dass sich die Öffentlichkeit dessen bewusst wird, was da abläuft. Sein Entwurf ist der Auftrag dazu, dass eines Tages etwas geschieht mit der Bibliothek. Ich hoffe, dass das Projekt dann mit seinem Namen in Verbindung gebracht werden wird. Für die Errichtung der Bibliothek ist die Unterstützung der Regierung nötig. Niemand anderer kann diese Investition tätigen. So lange diese Regierung im Amt ist, ist die Hoffnung sehr gering. Aber man darf die Flinte nicht ins Korn werfen, die Hoffnung lebt. Das, was Jan für die Nationalbibliothek getan hat, ist eine unübertreffliche Unterstützung, welches Gebäude auch immer am Ende gebaut wird.“


Ausstellungsplakat
Der Film „Oko nad Prahou“ läuft zurzeit in den tschechischen Kinos. Nähere Informationen finden Sie auf den Seiten des Tschechischen Fernsehens: www.ceskatelevize.cz/specialy/okonadprahou/english/index.php

Bis 2. August ist im Prager Zentrum für zeitgenössische Kunst DOX eine unfassende Jan-Kaplický-Retrospektive zu sehen. Alle Informationen dazu finden Sie hier: www.doxprague.org/en/exhibition?21