Über die Freiheit am Rand der Gesellschaft

Die tschechische Gesellschaft hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine rasante Entwicklung durchgemacht. 20 Jahre Freiheit haben Gewinner aber auch Verlierer hervorgebracht. Einige dieser Verlierer haben heute nicht mal mehr ein Dach über dem Kopf. Wie leben und überleben Menschen am Rand der tschechischen Gesellschaft 20 Jahre nach der Wende? Wie bewerten sie die Ereignisse des Jahres 1989? Radio Prag hat einen von ihnen gefragt.

Richard Novák  (Foto: Autor)
Die Metrostation Florenc in der Prager Innenstadt. Das ist der Arbeitsplatz von Richard Novák. Jeden Tag preist er hier geduldig den „Nový prostor“ an. Der Nový prostor, zu Deutsch „Neuer Raum“, ist eine Zeitschrift. Alle zwei Wochen erscheint eine neue Ausgabe. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis verrät: Unangepasstheit wird hier groß geschrieben, ein Hang zu sozialen Themen ist deutlich zu erkennen. Das ist kein Zufall, denn der Nový prostor ist eine so genannte Obdachlosenzeitschrift, herausgegeben von einer gleichnamigen Bürgervereinigung. Ihr Ziel ist es, Menschen zu helfen, die keine feste Bleibe haben oder sich in einer sozialen Notlage befinden. Die Verkäufer, die den Nový prostor an vorgeschriebenen Orten tagein tagaus den Passanten anbieten, sind solche Menschen, wie eben Richard Novák an der Metrostation Florenc:

„Für uns ist das Arbeit. Aber damit den Unterhalt zu sichern, ist sehr anstrengend, denn die Verkaufszahlen sind nicht besonders hoch. Aber es ist eine Arbeit wie jede andere, wir sind eben Zeitungsverkäufer.“

Die Berufspendler, die jeden Tag in Florenc aus-, ein- oder umsteigen kennen Richard Novák. Wenn sie morgens zur Arbeit fahren steht er dort, wenn sie auf dem Heimweg vorbeikommen, ist er immer noch da.

„Offiziell sollte ich hier nur bis Mittags stehen. Aber es geht natürlich darum, genug zu verdienen für eine Notunterkunft, für Essen, für etwas zum Anziehen und in meinem Fall – das muss ich zugeben – auch für Zigaretten. Deshalb komme ich meistens so gegen sieben, halb acht morgens und gehe wieder zwischen halb sechs und halb sieben abends, das heißt also etwa elf Stunden Arbeiten pro Tag.“

Elf Stunden Arbeiten für einen Stundenlohn von umgerechnet etwa einem Euro. Die Zeitschrift kostet 40 Kronen, die Hälfte darf der Verkäufer behalten. Für Novák, der pro Tag etwa 15 Exemplare des Nový prostor verkauft, ergibt sich ein Verdienst von 300 Kronen täglich, knapp über 6000 Kronen monatlich. Das sind rund 250 Euro, weniger als die Hälfte des Existenzminimums in Tschechien. Bekommt er Unterstützung vom Staat?

Er müsste ausfallend werden, sollte er sagen, wie wenig er vom Staat bekommt, fürchtet Richard Novák. Vom Staat erwarte er nichts mehr, sagt er. Die Arbeit beim Nový prostor hingegen sei für ihn ein Ausweg aus der größten Not. Eine langfristige Lösung sei aber auch das nicht. Die Zeitschrift verkauft er nun seit etwa einem halben Jahr. In der Bahnhofsmission auf dem Prager Hauptbahnhof hatte Novák einen Aushang gesehen: Verkäufer gesucht! Er meldete sich auf das Inserat und wurde eingestellt. Der Vorteil beim Nový prostor ist: den Verdienst, also den Erlös aus den verkauften Zeitschriften, streicht er bar ein. Nichts davon kann gepfändet werden.

Das ist wichtig, denn Richard Novák hat Schulden. Gerne scheint der etwa 50-Jährige nicht darüber zu sprechen, wie es dazu kam. Begonnen hat alles ganz normal: Schule, Studium, Wehrdienst, die erste Arbeitsstelle. Alles noch zu Zeiten der kommunistischen Tschechoslowakei. Dann kam 1989 die Revolution und mit ihr die Freiheit.

„Ich habe dann viele verschiedene Jobs gemacht. Ich habe an einem Projekt zur Wasseraufbereitung gearbeitet. Später habe ich Kabelfernsehanschlüsse verkauft, dann Internetanschlüsse und solche Sachen. Dann – und das war wohl auch meine eigene Dummheit – bin ich auf meinen damals besten Freund hereingefallen. Tja, und dann … ging alles bergab…“


Obdachlose hat es in der kommunistischen Tschechoslowakei offiziell nicht gegeben. Erst nach 1989 tauchten sie in den Großstädten auf, vor allem in der Hauptstadt Prag. Richard Novák schaut dennoch nicht verbittert auf die „Samtene Revolution“ zurück:

„Endlich ist die Diktatur verschwunden. Endlich ist der Eiserne Vorhang verschwunden und mit ihm die russischen Panzer. Natürlich ist nicht alles ideal, da würde man vielleicht zu viel verlangen, aber es ist vor allem auch diese fürchterliche Angst vor einem Krieg verschwunden, an die ich mich noch gut erinnern kann. Im Kommunismus haben sie uns ja in der Vorstellung erzogen, dass wir uns jeden Moment in einen Panzer setzen müssten, um damit nach Westdeutschland zu fahren. Ich habe natürlich Wehrdienst leisten müssen. Ich war da in einer chemischen Einheit und hatte dort auch mit Massenvernichtungswaffen zu tun. Da wurden zum Beispiel Manöver gemacht, in denen wir einen chemischen Angriff auf Paris geübt haben. Das war keine angenehme Vorstellung, selbst wenn es nur eine Übung war. Also diese Angst vor einem Krieg ist jedenfalls nach der Revolution verschwunden. In jeder Hinsicht ist es nach 1989 besser geworden. Man kann unternehmerisch tätig sein, man kann in die Kirche gehen und so weiter. Es ist eine riesige Erleichterung, auch wenn das bedeutet, dass es einem in der neuen Gesellschaft auch schlecht gehen kann. Aber letztlich bedeutete die Revolution Freiheit, und die schätze ich über alle Maßen.“

Und dennoch steht Novák auf der viel zitierten Schattenseite der Gesellschaft. Was ist also seiner Meinung nach schief gelaufen in der Entwicklung der vergangenen zwei Jahrzehnte?

„Mich überrascht bis heute, dass die Linksparteien in Tschechien immer noch so viele Wählerstimmen bekommen. Etwa 15 Prozent für die Kommunisten, das ist wirklich viel. Dabei kann sich man doch heute so einfach – zum Beispiel im Internet – über all die Verbrechen informieren, die die Kommunisten begangen haben. Ich hätte erwartet, dass sich bei uns schneller ein Parteiensystem bildet wie in den westlichen Demokratien. Vielleicht dauert das noch. Aber zum Beispiel die heutige tschechische Sozialdemokratie: die hat rein gar nichts mit sozialdemokratischer Ideologie zu tun. Das sind einfach nur Rüpel, und Rüpel gehören nicht in die Politik.“

Solche Aussagen aus dem Munde eines Obdachlosen überraschen. Trotz aller Kritik, blickt Novák optimistisch in die Zukunft. Er sieht eine ständige Entwicklung zum Besseren in der Tschechischen Republik. Die erhofft er auch für sich persönlich:

„Ich hoffe, dass mir der heilige Geist erscheint und mir sagt, wie ich aus diesen Schulden herauskomme. Und sonst? Hm, meine Arbeit macht mir eigentlich nichts aus, ich will auch gar keine normale Anstellung, weil mein Lohn dann gepfändet würde. Aber eine Anstellung mit Sozialversicherung und Krankenversicherung wäre schön... Irgendetwas denke ich mir schon aus. Bei mir ist das alles ein bisschen kompliziert, weil ich keine nahen Angehörigen mehr habe. Wenn ich noch Eltern hätte, dann wäre ich wohl nicht so geendet.“

Als das Mikrofon aus ist, sagt Richard Novák noch, er wünsche allen Hörern Schöne Weihnachten. Man möge ihm dasselbe gönnen.