Kopfzerbrechen über die Schriftsprache für neue ČSR-Bürger – die Karpatenukrainer
Am 28. Oktober wurde in Tschechien der traditionsreiche Staatsfeiertag gefeiert. Dieses Datum geht auf das Jahr 1918 zurück, als am selben Tag die selbständige Tschechoslowakische Republik als einer der Nachfolgestaaten der Habsburger Monarchie ausgerufen wurde. In der heutigen Ausgabe der Sendereihe „Kapitel aus der tschechischen Geschichte“ wollen wir unser Augenmerk auf den Beginn des neuen Staates richten, der von den ersten Tagen an vor Problemen jeder Art da stand. Darunter auch vor der Frage, welche Sprache in dem östlichsten Teil der Tschechoslowakei - der Karpatenukraine – als offizielle Schriftsprache eingeführt werden soll.
Am 28. Oktober 1918 hat sich die Tschechoslowakei zwar offiziell als selbständiger Staat deklariert und hatte dazu auch die notwendige Zustimmung der so genannten Entente-Mächte Großbritannien, Frankreich und der USA erhalten. Die geopolitische Lage in Europa, vor allem in Mittelosteuropa war zu dem Zeitpunkt aber noch nicht stabilisiert. In Paris hat am 18. Januar 1919 die Friedenskonferenz begonnen, die nach dem Ersten Weltkrieg die neu entstandenen Verhältnisse in Europa in Friedensverträgen verankern sollte. In den äußerst komplizierten Verhandlungen, die erst am 23. Januar 1920 abgeschlossen wurden, mussten unter anderem auch die Grenzen der neu entstandenen Staaten kodifiziert werden. Auch die Tschechoslowakei hatte ihre Probleme, wenn auch nicht so große wie etwa Ungarn, das zwei Drittel seines historischen Gebiets einbüßen musste. Der Historiker Jan Mervart erläutert:
„Im Unterschied zu anderen damals entstandenen Staaten Ostmitteleuropas hatte die Tschechoslowakei einen großen Vorteil. Der westliche Teil des Staates befand sich in den historischen Grenzen der Böhmischen Länder. Das heißt in den Grenzen Böhmens. Mährens und Schlesiens, die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts gebildet wurden. Problematisch war es mit der in den neuen Staat eingegliederten Slowakei. Ihre nördliche Grenze zu ziehen, war noch einigermaßen einfach. Man hat die historische Grenze zwischen Galizien und Ungarn als Staatsgrenze festgelegt, die die Bergkämme der Hohen Tatra bilden. Im Süden und Osten war es schon ein Problem.“
Im Süden der Slowakei, die bis dahin Teil des ungarischen Teils der Habsburger-Monarchie war, war die Grenzziehung sehr kompliziert. Die Tschechoslowakei und Ungarn haben auch eine militärische Lösung gesucht. Kopfzerbrechen bereitete dem neuen Staat auch die östliche Grenze, denn außer der Slowakei wurde der ČSR auch das Gebiet der Karpatenukraine angegliedert. Damit hat hierzulande kaum jemand gerechnet. Wie war eigentlich das Verhältnis der Prager Regierung zu dem neuen Landesteil? Jan Mervart:
„Das Verhältnis der tschechoslowakischen Regierung zur Karpatenukraine war eigentlich ambivalent. Einerseits wurde sie als Teil des tschechoslowakischen Staates wahrgenommen. Auf der anderen Seite war es kein aus der Geschichte hervor gegangenes integrales Gebiet. Die existierenden Unterschiede, die wirtschaftlichen, religiösen oder sprachlichen, waren riesengroß. Allein schon zur Slowakei hatte die Prager Regierung eine eher reservierte Einstellung und ihr Verhältnis gegenüber der Karpatenukraine war direkt misstrauisch. Das war auch einer der Gründe, warum die Karpatenukraine nie eine Autonomie bekommen hat.“Aus der Sicht der tschechischen Seite sei es um eine Art Kolonisierung gegangen, wenn auch keine klassische, sagt Mervart. Das übliche Bemühen bei der klassischen Kolonisierung, also Besiedlung des Gebiets, war keine Triebkraft:
„Es war eher eine modernere verwaltungspolitische Kolonisierung. Eine Besiedlung des neuen Staatsgebietes mit der Bevölkerung aus den böhmischen Ländern oder aus der Slowakei war nicht das Ziel. Natürlich hat man viele Staatsbeamten, Lehrer oder Eisenbahner dorthin entsandt. Aber wie gesagt, es war keine zielbewusste Kolonialisierungs-, sondern eine Verwaltungspolitik.“
Nun war also die Karpatenukraine Teil der Tschechoslowakei geworden und man stand vor einer bedeutenden Frage: Welche Sprache soll auf ihrem Gebiet als Schriftsprache kodifiziert werden? Darüber haben sich nicht nur Politiker, sondern auch renommierte Sprachwissenschaftler den Kopf zerbrochen. Einer der namhaftesten von ihnen war František Trávníček, Professor an der Karlsuniversität in Prag und der Masaryk-Universität in Brünn. Anfang der 1920er Jahre erläuterte er das Thema im Tschechoslowakischen Rundfunk:
„Die Notwendigkeit, das Schulsystem in der Kapartenukraine zu stabilisieren und zu vereinigen, hat mit sich auch die Frage der Unterrichtssprache gebracht. Es bieten sich drei Möglichkeiten an: es könnte einer der kapartenukrainischen Dialekte sein, oder die ukrainische Schriftsprache oder die russische Schriftsprache. Eine künstliche Sprache zu schaffen wäre eine sehr romantische Lösung und steht daher nicht zur Debatte.“
Bei der geeigneten Schriftsprache hat man auch das Volk, genauer gesagt die Schulen befragt:
„Beim Volksentscheid im Februar dieses Jahres stimmten von 486 Volksschulen 310 für Russisch, 117 Schulen für das Ukrainische und 50 Schulen nahmen daran nicht teil. Es ist sehr interessant und erfreulich, dass sich die Mehrheit der Schulen – bestimmt mehr instinktiv als bewusst – für die Sprache einsetzte, für die auch kulturelle und sprachliche Gründe sowie praktische Erwägungen sprechen.“
Für die Sprachwissenschaftler, die ja die Sprachen bis in die feinsten Nuancen zu analysieren wissen, war es offenbar eine harte Knacknuss – die Wahl der Sprache für die tschechoslowakischen Bürger der karpatenukrainischen Nationalität:
„Sollte es sich nur um die Unterrichtssprache an den Nationalschulen handeln, wäre wohl die kapartenukrainische Volkssprache in gewissem Maße als die am meisten verständliche geeignet. Es geht aber nicht um die Unterrichtssprache an der ersten Schulstufe, sondern darum, dass die Kapartenukraine über eine Schriftsprache für einen breiteren Rahmen verfügt, also eine Sprache für Kulturbedürfnisse und eine Unterrichtssprache an der mittleren und Hochschulstufe, eine Kanzleisprache für die möglichst breite Anwendung, aber auch die Sprache der Literatur, der Wissenschaft, der Journalistik und eine insgesamt theoretisch und praktisch verwendbare Fachsprache und so weiter.“
Es wäre noch eine lange Kultivierung des zur künftigen Schriftsprache gewählten Dialekts nötig, meinte Professor Trávníček. In seinem Rundfunkvortrag hat er in diesem Zusammenhang als Beispiel das Tschechische genannt.
„Denken wir daran, dass die tschechische Schriftsprache seit Ende des 13. Jahrhunderts existiert und seitdem über ein halbes Jahrtausend von ganzen Legionen der besten Söhne unseres Volks gepflegt wurde, und trotzdem müssen wir auch heute noch manches nachholen, um die Sprachkultur zum Höhepunkt zu bringen. Die Kulturentwicklung läuft in Meilenschritten und man muss sich aktiv daran beteiligen, um keine Zeit bei der Vorbereitung auf diese Beteiligung zu verlieren.“
Obwohl vieles oder wie Travníček sagte „rein kulturelle Voraussetzungen“ darauf hindeuteten, dass die Wahl auf das Russische fallen würde, wurde eine politische Entscheidung getroffen. Die politische Exilrepräsentation der Kapartenukrainer hat letztlich die ruthenische Sprache als offizielle Schriftsprache