Der Masaryk-Kult in der Karpatenukraine
Der erste tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk erfreute sich in seiner Heimat zwischen den beiden Weltkriegen großer Beliebtheit. Der Tag seines Geburtstags, der 7. März, wurde als inoffizielles Staatsfest gefeiert. Regelmäßig strömten zu diesem Datum Scharen von Menschen an seinen Amtssitz auf die Prager Burg. In den Theatern wurden zu seinen Ehren Sondervorstellungen aufgeführt und die Schüler durften zu Ausflügen aufbrechen. Die wohl größte Begeisterung erntete der Präsident aber in der Karpatenukraine.
Die Karpatenukraine bildete den östlichsten Zipfel in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Sie war sozusagen Konkursmasse der Habsburger Monarchie, die im Ersten Weltkrieg auseinander fiel. Der Landstrich war vergleichsweise rückständig und arm: Es gab fast keine Industrie, kaum Schulen, die Menschen arbeiteten vorwiegend in den Wäldern oder bestellten die mageren Felder. Die Mehrheit hier bildete die ostslawische Bevölkerungsgruppe der Ruthenen, heute heißt sie richtigerweise Russinen.
Als ab 1919 die ersten Lehrer, Ärzte, Polizisten und Beamten aus den anderen Landesteilen in die Karpatenukraine kamen, waren sie von einer Sache erstaunt: Die Ruthenen kannten viele Einzelheiten aus dem Leben Masaryks und sprachen seinen Namen mit Hochachtung aus. Die Verehrung für den tschechoslowakischen Staatspräsidenten war von jenen Ruthenen ausgegangen, die in die USA emigriert waren. Sie hatten mit Masaryk über den Anschluss der Karpatenukraine an die Tschechoslowakei verhandelt. Von dort schwappte die Verehrung durch Briefe in die frühere Heimat. In diesen Briefen äußerten die emigrierten Ruthenen die Hoffnung auf ein besseres Leben und hoben hervor, wer den größten Verdienst an der nationalen Befreiung ihres Volkes hatte: eben Masaryk. Diese Briefe wurden in der Karpatenukraine von Hand zu Hand weitergereicht und an bestimmtem Orten sogar öffentlich vorgelesen.
Der Präsidentenkult verbreitete sich bald auch in der ruthenischen Literatur, vor allem in der Poesie und dem Volkslied. Viele der Verse wurden jedoch nur handschriftlich aufgezeichnet und gelangten maximal ins nächste Dorf. Doch es erschienen auch Lobwerke zu Ehren Masaryks von anerkannten ruthenischen Dichtern. Der Präsident wurde dort als Befreier der unterdrückten Völker, Lehrer von Mut und Willen oder als weiser Vater dargestellt. Es war das erste Mal in der ruthenischen Geschichte, dass sich ein politischer Vertreter über solche Ehre freuen durfte. Alle vorherigen Herrscher waren von den Karpato-Ukrainern als kleinere oder größere Tyrannen verachtet worden. Die Lobgedichte hat vor allem der tschechische Journalist Evgeni Nedzelsky in seinem 1937 erschienenen Buch „Tomáš Garrigue Masaryk in der ruthenischen Poesie“ festgehalten. Er zitiert zum Beispiel den Dichter Andrej Karalebeš, der die Verdienste von Masaryk wie folgt in Verse setzt:
Dlja žizni mirnoj, družnoj i svobodnoj
Ty priobrjol svobodnyje goda,
Chvala Tebě, učitel vsenarodnoj,
Učitel mysli, voli i truda.
Oder auf Deutsch:
Für ein friedfertiges, freundliches und freies Leben
Hast du freie Jahre erkämpft,
Gelobt seiest Du, Lehrer der Nation,
Lehrer von Geist, Willen und Arbeit.
In der Karpatenukraine war ein Volkslied besonders beliebt: die „Kolomyjka“ - ein tänzerisches Stück, das mit einfachen Vierzeilern in typischer Singweise ergänzt werden konnte. Kein Wunder, dass der Masaryk-Kult auch hier durchdrang. So heißt es im Text eines der Lieder:
My Rusyny, prosym Boha
Majže v každom domu,
Za našoho prezidenta
Masaryka Fomu.
Molytysja v viky,
Za našeho prezidenta
Českoj Respublyky.
Auf Deutsch: „Wir Ruthenen bitten dafür, dass wir in jedem Haus Thomas Masaryk als Präsidenten haben können. Wir Ruthenen werden ewig für den Präsidenten der Tschechischen Republik beten.“
Als in den 30er Jahren die Weltwirtschaftskrise auch die Karpatenukraine erschütterte, baten die ruthenischen Bauern den tschechoslowakischen Präsidenten in einem Lied, ihnen die Hälfte ihrer Schulden zu erlassen. Obwohl dieser Wunsch nicht erfüllt wurde, blieb Masaryks Ansehen ohne Schaden. Davon zeugen viele Lieder ruthenischer Rekruten. Soldat zu werden, dass bedeutete für sie, Masaryk zu dienen:
Ta uže mja otobraly
Do vojska služity,
Masaryku na posluhu
Karabyn nosyty.
In etwa auf Deutsch: „Ich wurde in die Armee eingezogen, um Masaryk als Diener den Karabiner zu tragen.“
Der bewunderte Präsident besuchte die Karpatenukraine nur einmal – am 22. September 1921. Nur ein paar Stunden verweilte er damals in Užgorod. Dennoch ließen die Ruthenen sich die Gelegenheit nicht entgehen, Masaryk für den Besuch zu danken und den Wunsch zu äußern, er möge schon bald wieder kommen. Das alles geschah natürlich mit einer Kolomyjka:
Hej ty slavnyj prezidente,
Fomo Masaryku,
My ljubyly by s toboju
Žyty tut do viku!
Pojte, pane Prezidente,
Žijte meži namy,
Meži virnymy synamy,
Meži Rusinamy.
Hej, Du berühmter Präsident,
Thomas Masaryk,
Wir möchten ewig mit dir leben.
Kommen Sie, Herr Präsident,
leben Sie unter uns,
unter Ihren treuen Söhnen,
unter den Ruthenen.
Der Erste Weltkrieg verstärkte die Kontakte zwischen beiden Völkern. An der Seite der tschechoslowakischen Fremdenlegion kämpfte auch eine Truppe von Soldaten aus der Karpatenukraine. Die Soldaten waren zuvor aus der ungarischen Armee desertiert. Nach der Eingliederung der Karpatenukraine in die Tschechoslowakei wurde die ruthenische Sprache erstmals offiziell anerkannt. Zeitungen und Bücher wurde auf Ruthenisch herausgegeben, in der Stadt Užgorod entstand ein ruthenisches Nationaltheater.
Die Gedichte waren natürlich nicht die einzige Weise, wie die Ruthenen ihre Dankbarkeit für die Erlangung der Freiheit äußerten. 1929 schenkten sie Prag die hölzerne St.-Michaels-Kirche aus dem Dorf Medveďovce bei Mukačevo. Die Ruthenen organisierten eine nationale Geldsammlung, um das Auseinandernehmen, den Transport und den Wiederaufbau des Gotteshauses in der Hauptstadt des Landes zu finanzieren. Diese Kirche steht auch heute noch auf dem Prager Petřín-Hügel. Als die tschechoslowakischen Truppen während des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion kämpften, waren auch viele Ruthenen darunter.
1945 wurde die Karpatenukraine durch eine manipulierte Volksabstimmung in die Sowjetunion eingegliedert. Auf ihrem Gebiet befinden sich jedoch bis heute viele Bauten, die an die 20-jährige Ära der demokratischen Tschechoslowakei erinnern. Viele Leute behaupten sogar, dass diese Zeit in der ganzen Geschichte der Region die schönste war.