Prag als Zufluchtsort schon vor 100 Jahren: Ukrainische Freie Universität
Die barbarischen Taten der russischen Armee in der Ukraine sorgen nicht nur in Tschechien für Schlagzeilen. Aber besonders nach Prag strömen täglich mehrere Tausende ukrainischer Bürger, um Schutz vor dem Krieg zu finden. In der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik gab es in Prag sogar eine ukrainische Universität. Mehr erfahren Sie im Interview mit dem Historiker und Philosophen Petr Hlaváček. Er koordiniert das Collegium Europaeum der Prager Karlsuniversität und der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.
Herr Hlaváček, die tschechische Öffentlichkeit weiß heute kaum mehr, dass einst in Prag eine ukrainische Universität bestand. Es war die Ukrainische Freie Universität. Unter welchen Umständen ist sie entstanden?
„Das ist für den Anfang eine sehr komplexe Frage. Nach 1917 flohen Zehntausende oder eher Hunderttausende Menschen vor dem bolschewistischen Terror und dem Bürgerkrieg aus dem russischen Imperium. Es waren nicht nur Russen, sondern auch Ukrainer, Belarussen und Angehöriger weiterer Nationen. Zu den wichtigsten Zielländern und später Zentren der Emigration gehörte neben der Türkei, Jugoslawien, Deutschland und Frankreich auch die Tschechoslowakei. Eine sehr starke ukrainische Kommunität, zu der viele Intellektuelle und Politiker aus der zerstörten Ukrainischen Volksrepublik gehörten, lebte damals eben in der Tschechoslowakei. Die erwähnte Ukrainische Freie Universität wurde 1921 in Wien gegründet, aber noch im selben Jahr siedelte sie nach Prag um. Denn in Österreich herrschten damals Not und Chaos.“
Wurde die neue Universität auch von der tschechoslowakischen Regierung finanziell unterstützt?
„Die tschechoslowakische Hilfe für die ostmitteleuropäischen Geflüchteten war sehr umfangreich, und zwar dank einer Initiative von Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk und Ministerpräsident Karel Kramář. Alle Aktivitäten wurden von der sogenannten ,Russischen Hilfsaktion in der Tschechoslowakei‘ koordiniert und finanziert. Aktiv zusammengearbeitet haben damals auch verschiedene Vereine. Die Ukrainer selbst gründeten ein ‚Ukrainisches Komitee‘. Die Tschechoslowakei unterstützte vor allem russische und ukrainische Intellektuelle, Künstler, Schriftsteller, Professoren und Studenten. Warum? Die politische und intellektuelle Elite hierzulande glaubte, dass aus den gut ausgebildeten Emigranten in der Zukunft eine neue Elite des demokratischen und föderalisierten Russlands entstehen werde. Deshalb wurde auch der Umzug der Ukrainischen Freien Universität nach Prag begrüßt. Ukrainische Studenten haben aber ebenso an weiteren Universitäten und Hochschulen studiert: in Prag, Brünn und Bratislava.“
„Die Tschechoslowakei wurde in der Zwischenkriegszeit wirklich zu einem intellektuellen Zentrum der Ukrainer.“
Ist bekannt, wie viele Ukrainer damals Zuflucht in der Tschechoslowakei fanden? Und war die Universität damals ein Zentrum der ukrainischen Intellektuellen in Europa?
„In der Zeit der Ersten Tschechoslowakischen Republik haben sich ungefähr 30.000 ukrainische Flüchtlinge hierzulande niedergelassen. Zudem lebten im östlichen Teil des Staates, in Karpatenruthenien (Karpatenukraine, Anm. d. Red.), etwa 400.000 Ruthenen. Dort entstand ebenfalls eine ukrainische Bewegung. Nur um vergleichen zu können: Heutzutage leben in Tschechien mehr als 50.000 tschechische Staatsbürger ukrainischer Nationalität, zudem etwa 200.000 ukrainische Staatsbürger, die im Land arbeiten, und aktuell fast 200.000 Geflüchtete, die wegen des neuen aggressiven russischen Kriegs gegen die Ukraine gekommen sind. Die Tschechoslowakei wurde in der Zwischenkriegszeit wirklich zu einem intellektuellen Zentrum der Ukrainer, denn neben der Universität entstanden auch weitere Hochschulen und Institute im Land wie beispielsweise die Ukrainische Wirtschaftsakademie in Poděbrady, das Ukrainische Hochschul-Institut und das Ukrainische Studio bildender Künste in Prag.“
Welche Fächer wurden an der Ukrainischen Universität gelehrt, und waren die Vorlesungen nur auf Ukrainisch?
„Die Ukrainische Freie Universität war in zwei Fakultäten gegliedert: eine war philosophisch-juristisch orientiert und die andere sozial-ökonomisch. Als Vortragssprache wurde natürlich das Ukrainische benutzt, das ja eine vollwertige wissenschaftliche Sprache war. Die Ukrainer waren und sind keine Russen – damals sowie heute!“
In Prag waren damals mehrere namhafte ukrainische Dichter tätig. Waren sie auch irgendwie mit der Universität verbunden?
„Ja, selbstverständlich. Übrigens waren fast alle Professoren, Dozenten und Lektoren auch sozusagen literarisch tätig, wie beispielsweise der erste Universitätsrektor und Historiker Oleksandr Kolessa, der Musikwissenschaftler Fedis Steško und der Kunsthistoriker Dmytro Antonovič. Mit dem ukrainischen Hochschulwesen in Prag waren als Studenten auch die Dichter Oleksa Babij oder Mychajlo Obidnyj verbunden.“
In wie weit ist es in der heutigen Ukraine bekannt, dass die Ukrainische Universität lange Jahre ihren Sitz in Prag hatte?
„Ab Mai 1945 verhafteten die sowjetischen Sicherheitsorgane eine große Zahl von Ukrainern, aber auch Russen und Belarussen, die schon längst tschechoslowakische Staatsbürger waren. Diese wurden ermordet oder in die Gulags in die Sowjetunion verschleppt – alles ohne Proteste der tschechoslowakischen Behörden.“
„Erstens muss ich sagen, dass die Ukrainische Freie Universität eigentlich bis heute existiert, und zwar in München. Dort hat sie 1945 einen neuen Sitz gefunden. Ich kenne sogar persönlich die gegenwärtige Rektorin, Professorin Maria Pryshlak. Es mag vielleicht überraschend klingen, aber den tschechischen und den ukrainischen Intellektuellen ist die Prager Etappe in der Geschichte der Universität gut bekannt. Dies hat gute Gründe auf beiden Seiten. So reflektieren die Tschechen in den letzten Jahren zunehmend mit Trauer und Scham das Unrecht und die Verbrechen aus der Zeit der sogenannten ,Dritten Republik‘ zwischen 1945 und 1948. Ab Mai 1945 verhafteten die sowjetischen Sicherheitsorgane eine große Zahl von Ukrainern, aber auch Russen und Belarussen, die schon längst tschechoslowakische Staatsbürger waren. Diese wurden ermordet oder in die Gulags in die Sowjetunion verschleppt – alles ohne Proteste der tschechoslowakischen Behörden. Für die Ukrainer wiederum war Prag historisch der wichtigste und freieste Zufluchtsort in Europa gewesen. Abschließend kann ich in Anbetracht der aktuellen Ereignisse sagen, dass wir Tschechen und die Ukrainer eine deutlich negative Erfahrung mit dem sowjetischen Kommunismus und russischem Imperialismus teilen. Diese Erfahrung sollte niemand der freisinnigen Europäer ignorieren.“