St. Joachimsthal – Stadt der Badewannen und der Bergwerke
Das Örtchen St. Joachimsthal – auf tschechisch Jáchymov – liegt idyllisch am Fuße des Keilbergs auf der tschechischen Seite des Erzgebirges. Das Rathaus, die Königliche Münzstätte und andere Gebäude aus der Renaissance-Zeit zeugen von der einstigen Größe der Bergbaustadt. Es ist kaum vorstellbar, aber im 16. Jahrhundert war St. Joachimsthal nach Prag die zweitgrößte Stadt in den böhmischen Ländern. Heute wohnen nur noch 3000 Einwohner hier. Die Kurgäste – rund 18.000 kommen pro Jahr – beleben die Kurhäuser und die Straßen dieses ersten Radonbades der Welt. Die Reichtümer des Städtchens lagern nach wie vor einige hundert Meter unter der Erde.
„Jetzt fahren wir 500 Meter ein, 3,5 Meter pro Sekunde. Machen Sie den Mund auf, zum Druckausgleich! Hier gibt es zwölf Sohlen. Auf der 12. Sohle befinden sich die Pumpstation und die Heilquellen. Früher, als hier Uranerz abgebaut wurde, gab es zehn Stufen und die Körbe waren größer. In einen Korb haben 50 Leute reingepasst. Auf jeder Schicht haben 3000 Menschen gearbeitet.“
Albert Iser hat diese Zeit noch nicht erlebt. Seit 1964 wird hier kein Uran mehr abgebaut. Iser arbeitet erst seit der Wende im Jáchymover Bergwerk. Im Aufzug der ältesten Grube Svornost, zu Deutsch Eintracht, finden heute nur noch sechs Personen Platz. Feucht und kalt ist es auf der 12. Sohle, 500 Meter unter der Erde. Ohne die Lampen an unseren Schutzhelmen und die Akkus um unsere Hüften wären wir verloren. Iser zeigt uns eine Karte der wahrscheinlich ältesten durchgängig betriebenen Grubenlandschaft der Welt:„Das ist der Querschnitt des Erzgebirges. Hier sind die ehemaligen Schächte. In der Stadt Joachimsthal gab es 35 Gruben. Davon sind zwei Gruben erhalten: die Grube Eintracht und die Grube Josef. Geblieben sind sie, weil die vier Heilquellen hier sind. Auf jeden Schacht kommen durchschnittlich 140 Kilometer Stollen. Sie können sich also vorstellen, wie das alles durchbohrt ist.“
Heute sind fast alle Gruben stillgelegt, doch jahrhundertelang hat St. Joachimsthal vom Bergbau gelebt. Im 16. Jahrhundert entdeckte man Silber. Das wertvolle Edelmetall wurde unter anderem zum Prägen von Königlichen Münzen benutzt. Aus diesen so genannten Joachimsthalern entstand die Bezeichnung Thaler und später auch Dollar. Die bedeutende Wirtschaftsmetropole zog aber auch zahlreiche bekannte Gelehrte an, zum Beispiel Georgius Agricola, den „Vater der Mineralogie“, oder der protestantische Pfarrer Johann Mathesius.Nach einer kurzen Blüte im „Silberrausch“ erlebte die nordwestböhmische Stadt einen weiteren Aufschwung im 19. Jahrhundert. Und zwar durch Uran. Aus diesem Metall wurden leuchtende gelblich-grüne Farben für die Porzellan- und Glasproduktion hergestellt. Nach der Entdeckung der Radioaktivität in den 1930er Jahren wurden die Uranvorkommen dann massiv abgebaut. Denn die Lagerstätte in St. Joachimsthal war die wichtigste Uranquelle für die entstehende sowjetische Atomindustrie. Ab 1948, zur kommunistischen Zeit, landeten viele unliebsame Bürger als Häftlinge und Zwangsarbeiter in der berühmt-berüchtigten „Joachimsthaler Hölle“. Doch in diese dunkle Zeit der Uranminen fällt auch der Beginn einer neuen Ära – die Ära der Heilquellen. Entscheidenden Anteil daran hatte die polnisch-französische Physikerin Marie Curie-Sklodowska, wie Albert Iser erzählt:
„Unten im Kurort zwischen den Hotels „Radium Palace“ und „Astoria“ stand eine große Fabrik. Dort wurden aus Kobalt und Uran Farben hergestellt. Dann hat Marie Curie-Sklodowska aus einer Tonne Uran-Abfall ein Gramm Radium extrahiert.“
Im Jahr 1898 gelang Marie Curie der Nachweis zweier bisher unbekannter Elemente: Polonium und Radium - und zwar aus einem Brocken Uranerz aus St. Joachimsthal. Dafür erhielt Curie 1911 den Nobelpreis für Chemie. Im selben Jahr wurde der erste Kurbetrieb in St. Joachimsthal eröffnet. Radiumbestrahlung und Radonbäder versprachen Heilung für alle möglichen Erkrankungen. Aus Uran entsteht durch radioaktiven Zerfall nämlich zunächst Radium – aus Radium wiederum das Edelgas Radon. Eine erste radonhaltige Quelle sprudelte schon 1864 in die Joachimsthaler Stollen. Die schmerzlindernde und entzündungshemmende Wirkung dieser Quelle bemerkten schon die Bergleute. Allerdings schrieben sie diese nicht ihrer Radioaktivität, sondern einem Brunnengeist zu. Heute weiß man bestens bescheid über die Strahlung der mittlerweile vier Radonquellen, erklärt Albert Iser und öffnet den Hahn der stärksten Quelle.
„Das ist das Radonwasser – 36 Grad warm. In diesem Wasser können Sie unten im Kurort baden. Jeden Monat machen wir eine Probe. Da sind keine Bakterien drin. Das ist gutes Wasser. Jetzt können Sie sehen, wie das Radon aus dem Wasser rauskommt. Wenn Sie die Hände reingeben, sehen Sie, wie Blasen rauskommen. Nach 20 Minuten ist das Wasser sauber; dann ist das Radon weg. Wenn Sie in die Wanne steigen und sich bewegen, geht das Radon schnell raus. Also müssen Sie 20 Minuten ruhig in der Wanne liegen.“
Szenenwechsel: Eine der unzähligen Badewannen im Kurviertel: Man sieht nichts, man riecht nichts, man schmeckt nichts. Doch erstaunlicherweise friert man auch nicht. Bei minus 36 Grad würde man das eigentlich erwarten. Dies ist auf die Wirkung der Alphastrahlen im Körper zurückzuführen, erklärt Chefärztin Lenka Draská.
„Die Radonkur stimuliert das Immunsystem in unserem Organismus, und zwar indem sie die Gene anregt, die für die Wiederherstellung von beschädigten Zellen da sind. Das Radon aktiviert also unsere geheimen Codes, die plötzlich wirksam werden und beginnen, den Körper zu reparieren.“Karl May war einer der ersten Gäste des Radonheilbads. Bereits 1911 verbrachte der Abenteuerschriftsteller einige Wochen zur Kur in St. Joachimsthal. Als er kurz darauf verstarb, titelte die deutsche Boulevard-Presse: „Karl May starb an Radium-Strahlen!“ Wie hoch die Radondosis der Bäder damals war und welche Radium-Anwendungen er sonst noch genoss, wissen wir nicht. Wohl aber, dass May bereits vorher schwer krank war. Allerdings waren die Gefahren der radioaktiven Strahlung von Uran und seinen Zerfallsprodukten erst später bekannt. Obwohl Marie Curie bei ihrem Besuch in St. Joachimsthal im Jahr 1925 schon vor Spätfolgen warnte, konnte man damals allerlei strahlende Radium-Souvenire kaufen und sogar Radium-Bier trinken. Heute sei die gesundheitsfördernde Wirkung einer niedrigdosierten Radonkur unter anderem vom Europäischen Heilbäderverband anerkannt, so die Oberärztin Draská.
„Wir verabreichen die Strahlung in kleinen Dosen. Der Körper absorbiert die Energie der Alpha-Strahlung und wandelt sie in biologische Energie um. Und diese nutzt der Körper zur Regenerierung. Es ist erwiesen, dass eine dreiwöchige Kur eine Strahlung mit sich bringt, die einer Röntgenaufnahme der Lunge entspricht.“Auch das Röntgen der Lunge will man heutzutage natürlich lieber vermeiden. Aber Rheumatiker, Patienten mit Morbus Bechterew und anderen Gelenks- und Nervenerkrankungen schwören auf die Radonbäder. Diese bringen zwar keine Heilung, aber eine deutliche und langanhaltende Linderung ihrer Beschwerden. Den Großteil der Kurgäste machen immer noch Tschechen aus. Aber auch viele Deutsche und einige Russen und Araber schlurfen in Jogginganzügen und Hausschuhen durch die Gänge der Kurkomplexe. Einige Gäste steigen schon zum 30. oder 40. Mal in die Radonwannen. Und so scheint heute durch den Kurbetrieb wahr zu werden, was der Joachimsthaler Pfarrer Johann Mathesius schon im 16. Jahrhundert predigte:
„Nunmehr lehrt uns die Erfahrung, dass an vielen Orten Warmwasserbäder neben großen Bergstädten entstehen. Denn unser Herrgott ist ein weiser Wirt, der weiß, dass die Kumpel in den Gruben viele böse Winde und giftigen Rauch einatmen und deshalb ist es ihm zu eigen, neben den Gruben eine eigene Apotheke zu errichten, damit die Grubenarbeiter Heilmittel gegen die verstaubten und verschleimten Lungen, die verkühlten Mägen und lahmen Glieder haben.“