Bei Tisch nur Latein: Karls-Uni im Mittelalter und das Kuttenberger Dekret

Karlsuniversität

Genau 600 Jahre waren es im Januar, seitdem der böhmische König Wenzel IV. entscheidend in das Geschehen an der Prager Karlsuniversität eingriff. 1409 erließ er das so genannte Kuttenberger Dekret. Nachfolgend zogen die deutschen Magister und Studenten aus Prag aus und die Alma Mater an der Moldau verlor ihre Bedeutung für gesamt Mitteleuropa. Wie sah aber das Uni-Leben damals aus und wie kam es zu der Kuttenberger Anordnung? Till Janzer hat dazu den folgenden Beitrag für unsere Sendereihe „Kapitel aus der tschechischen Geschichte“ gestaltet, der Sie in die Welt des Studiums im spätmittelalterliche Prag entführt.

„…Wir sind entschlossen, jedem einzelnen die feste Zusicherung zu geben, allen, die hierher kommen wollen, samt und sonders alle Privilegien, Immunitäten und Freiheiten aufs Mildeste zu erteilen, welche auf den Studien zu Paris und zu Bologna die Doktoren und die Scholaren aus königlicher Macht ungestört zu genießen gewohnt sind...“

So heißt es unter anderem in der Gründungsurkunde der Prager Karlsuniversität. Karl IV. lud damit 1348 Lehrende und Studenten aus weiten Teilen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nationen ein, nach Prag an die neu gegründete Universität zu kommen. Es war die erste Hochschule nördlich der Alpen und östlich von Paris– und die Wissbegierigen kamen tatsächlich auch aus allen Himmelsrichtungen. Nach dem Vorbild von Bologna und Paris mussten sie sich an der Universität als so genannte Nationes einschreiben. Mit den Nationen, wie wir sie heute verstehen würden, hat dieser Begriff jedoch wenig zu tun: Er bezeichnet weder eine ethnische noch sprachliche Zugehörigkeit nach unserem heutigen Verständnis eines Nationalstaats. Er erklärt viel mehr die geographische Herkunft. Michal Svatoš, Leiter des Instituts für die Geschichte der Karlsuniversität, erläutert dies am Beispiel der Saxones:

„Die Saxones oder Saxoni, das sind die Sachsen. Es sind aber nicht die Sachsen, wie wir sie heute kennen, sondern es waren die Leute, die aus den Gegenden nördlich des Rheins kamen.“

Kuttenberger Anordnung
Ähnlich verhielt sich es auch mit den zwei weiteren deutschen Stämmen: Als Bayern wurden die Leute bezeichnet, die aus den Gegenden südlich des Rheins kamen, und die Polen waren keine Slawen, sondern meist deutschsprachige Menschen aus Schlesien. Polen, Bayern und Sachsen bildeten die deutschsprachigen Nationes. Die Einheimischen waren jedoch die Böhmen.

„Damit meinte man jene Leute, die zum Studium aus Böhmen, Mähren oder aus der Slowakei – also aus Oberungarn, wie der mittelalterliche Begriff richtig heißt - kamen. Und sie kamen aber auch vom Balkan oder aus Litauen, also aus einem nicht-slawischen Gebiet“, so Svatoš.

Die Karlsuniversität war damals also eine höchst internationale Hochschule, wenn man es mit heutigen Begriffen beschreiben wollte. Das Problem eines babylonischen Sprachgewirrs löste man laut Michal Svatoš auf einfache Weise

„Die gemeinsame Sprache war nicht Deutsch, sondern Latein. Dies war die Sprache aller Intellektuellen in Europa zu dieser Zeit. In den Anordnungen in den Prager Kollegien steht wörtlich, dass auch in der Mensa Latein gesprochen werden musste. Es ging darum, dass sich die Leute auch bei Tisch verstehen sollten.“

Wenzel IV.
Wie sah aber das Studium im spätmittelalterlichen Prag aus? Michal Svatoš:

„Die Prager Universität hatte wie andere Universitäten in Europa nur vier Fakultäten. Zum einen gab es das Propädeutikum, also eine Einführung zu den höheren Fächern; sie wurde artistische Fakultät oder - auf Deutsch - die Fakultät der freien Künste genannt. Das höhere Studium bot drei Fächer an: Medizin, Jura, und an der Spitze stand wie üblich im Mittelalter die Theologie. An der artistischen Fakultät dauerte das Studium bis zum ersten Grad, dem Baccalaureat, maximal drei Jahre. Normalerweise begannen die jungen Männer bereits mit 15 Jahren ihr Studium. Im Alter von 18 Jahren waren sie dann voll ausgebildete Intellektuelle. Dazu kamen die Studien zum Magistergrad, die dauerten zwei bis drei Jahre. Und das Studium an der theologischen Fakultät dauerte zwölf Jahre.“

Doch das heißt: Mit 18 Jahren konnte man also schon das Diplom in der Tasche haben, eine unglaubliche Vorstellung aus heutiger Sicht. Allerdings ging es auch viel rasanter unter die Erde, die durchschnittliche Lebenserwartung im Spätmittelalter lag je nach sozialer Herkunft zwischen 35 und 50 Jahren.

Sehr viel mehr lässt sich aber bisher nicht über das Studium im spätmittelalterlichen Prag sagen. Denn die Fragen nach dem wie, wer und was – „das sind die grundsätzlichen Fragen der Forschung für die nächsten 50 Jahre“, sagt Historiker Svatoš.

Ausländische Studenten in Prag
Was jedoch bekannt ist, sind die groben Strömungen an der Prager Karlsuniversität. Die konfessionellen Streitigkeiten hatten sich auch auf die Ebene der Hochschulebene übertragen. Immer stärker neigten die böhmischen Studenten und Gelehrten Magister Jan Hus und seinen Lehren zu, während die drei deutschen Universitätsnationen dies ablehnten. Die Kluft zwischen beiden Lagern schien noch nicht unüberwindbar. König Wenzel IV. wollte jedoch beim Konzil in Pisa wieder als Reichskönig anerkannt werden. Diesen Status hatte der Böhme neun Jahr zuvor an den Wittelsbacher Ruprecht aus der Pfalz verloren. Um nach Pisa fahren zu können, brauchte er die Zustimmung der Karlsuniversität. Historiker Michal Svatoš:

„Die Böhmen oder in diesem Fall besser: die Tschechen waren für die Teilnahme am Konzil. Das war der Kreis der Magister, Baccalaren und Studenten um Magister Johannes Jus. Die anderen Universitätsnationen, die deutschen, waren dagegen.“

Wegen der bisherigen paritätischen Besetzung hätten die Sachsen, Bayern und Polen in den Gremien der Karlsuniversität die Böhmen mit Leichtigkeit überstimmt. Um seine Chancen auf das Konzil zu wahren, griff König Wenzel zu einer überraschenden Maßnahme: Obwohl die paritätische Besetzung der Gremien eigentlich als Grundordnung galt, ordnete er der Universitätsleitung mit dem Kuttenberger Dekret an, das Stimmverhältnis zugunsten der Böhmen zu drehen:

„Wir, die wir als ungerecht und unangemessen erachten, dass vom Wohle der Bewohner (…) übermäßig Ausländer und Zugereiste schöpfen, (…) ordnen Ihnen Macht dieses Dekrets streng an, dass Sie ohne Widerstand und Verzögerung (…) die böhmische Nation zu drei Stimmen zulassen bei allen Beratungen, Gerichten, Prüfungen, Wahlen und allen anderen Verhandlungen, die an der Universität abgehalten werden. (…) Verfahren Sie jedoch nicht anders, falls Sie unserem ärgsten Zorne entgehen wollen.

Karlsuniversität
So lautet – in gekürzter Form - die wohl wichtigste Passage des Kuttenberger Dekrets. Der heute undenkbare Eingriff der Macht in die Wissenschaft brachte dem böhmischen König allerdings nicht viel. Zwar fuhr er nach Pisa, doch alleiniger Reichskönig wurde er nicht. Für die Prager Karlsuniversität und die Hochschullandschaft im Reich hatte das Dekret hingegen weit reichende Folgen. So verließen die ausländischen Hochschullehrer und Studenten nun in Massen Prag:

„An dem Auszug aus Prag beteiligten sich 700 bis 800 Leute. Diese Leute gründeten zum Beispiel in Leipzig eine neue Universität. Andere verstärkten weitere Universitäten in den Nachbarländern: in Krakau, in Wien, in Köln oder in Heidelberg“, weiß Michal Svatoš zu berichten.

War die Karlsuniversität bisher eine Hochschule von gesamtmitteleuropäischer Bedeutung gewesen, so setzte nun auch in Prag der Prozess ein, der sich bereits anderswo bemerkbar gemacht hatte. Svatoš fasst dies in drei Schlagworten zusammen: Territorialisierung, Regionalisierung – und in Prag nun mindestens 100 Jahre früher als anderswo in Europa – die Konfessionalisierung:

„Die Territorialisierung bedeutet, dass sich der Einzugsbereich der Universität auf das Land verengt, in dem sie sich befindet. Die Regionalisierung meint etwas Ähnliches: Nur noch aus einer Region kommen die Studenten und die Professoren, und sie bleiben danach auch dort, um ihre Berufe auszuüben. Und am Anfang der Konfessionalisierung stand die Hussiten-Universität in Prag. Sie entstand in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts und hatte eine ganz andere Konfession als die Hochschulen im restlichen Europa.“

Autor: Till Janzer
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