Nach Lissabon-Urteil: Verstimmung zwischen Brünner Verfassungsgericht und Prager Burg
Auf dem Weg zur Ratfifizierung des EU-Reformvertrags von Lissabon hat Tschechien am Mittwoch eine wichtige Hürde genommen: Das Verfassungsgericht im südmährischen Brünn hat nach sieben Monate langer Beratung die Frage des tschechischen Senats beantwortet, der wissen wollte, ob der Vertrag im Einklang mit der Verfassung steht. Ergebnis: Die 15 Verfassungsrichter erkannten zwischen den beiden Dokumenten keinen Widerspruch. Eine Entscheidung, die in den Tagen danach noch ausgiebig diskutiert wurde. Vor allem zwischen der Präsidentschaftskanzlei in Prag und dem Verfassungsgericht in Brünn kam es zum heftigen Schlagabtausch.
„Es hat sich der Verdacht bestätigt, den wir schon seit einigen Wochen hatten. Und zwar der Verdacht, dass das Verfassungsgericht seine Entscheidung bereits lange vorher getroffen hatte. Es fällte seinen Beschluss nur einen Tag, nachdem von Senatoren und vom Staatspräsidenten neue Argumente laut wurden. In dieser kurzen Zeit kann man sich diese Dinge gar nicht ordentlich durchlesen und dann auch noch die entsprechenden Stellen im Lissabonner Vertrag finden. Man hat einfach eine fertige Stellungnahme aus der Schubalde gezogen.“
Pavel Rychetsky, der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, war ab Sommer 2002 ein Jahr lang Justizminister in der Regierung des sozialdemokratischen Premiers Vladimír Špidla. Über die Vorwürfe aus dem Umfeld des konservativen Klaus kann er sich nur wundern. Dass die Richter ihre Analyse bereits vorbereitet hatten, das sei nämlich selbstverständlich, so Rychetský:
„Das Ansuchen, den Lissabonner Vertrag zu prüfen, wurde uns am 30. April vorgelegt. Und erinnern Sie sich: Danach sind wir mehr als einmal kritisch gefragt worden, warum wir mit unseren Beratungen immer noch nicht weiter gekommen sind, warum wir für die Sache so lange brauchen. Ja, es stimmt: Das Verfassungsgericht hat fast sieben Monate lang die einzelnen Punkte des Lissabonner Vertrags analysiert. Herr Jakl und der Präsident haben also zweifellos recht. Die Verfassungsrichter sind nicht unvorbereitet und ohne irgendwelche Unterlagen in den Verhandlungssaal gekommen. Ganz im Gegenteil! Sie hatten sieben Monate intensiven Arbeitens und Prüfens hinter sich.“Ein weiterer Vorwurf aus der Präsidentschaftskanzlei: Das Verfassungsgericht habe nicht aufgrund juristischer Argumente sondern aufgrund politischer Anschauungen entschieden. Die rechtlichen Widersprüche zwischen dem Lissabonner Vertrag und der tschechischen Verfassung seien nämlich für jeden juristisch gebildeten Menschen offensichtlich, so Ladislav Jakl:
„Das war natürlich Absicht und entspricht dem allgemeinen Klima in Tschechien und leider auch in der Europäischen Union. Wenn jemand eine andere Meinung zu einem konkreten Produkt der Brüsseler Bürokratie hat, dann wird er ja fast ins Irrenhaus gesperrt. Seine Ansichten werden als obskur oder lustig bezeichnet. Man hört dann eher den Ruf danach, diesen Menschen mundtot zu machen, und keine normalen, ruhigen, sachlichen Argumente.“
Starker Tobak. Immerhin beschuldigt Jakl das tschechische Verfassungsgericht, rechtliche Bedenken gegen den Lissabonner Vertrag bewusst zu leugnen. Pavel Rychetský weist den Vorwurf jedoch zurück:
„Dass diese Entscheidung des Verfassungsgerichts auch eine politische Dimension hat, darüber kann es nicht den leisesten Zweifel geben. Für jedes Verfassungsgericht der Welt gilt, dass es nicht nur ein Organ zum Schutz des Rechts ist, sondern auch eine Institution, dessen Entscheidungen politische Auswirkungen haben. Dessen ist sich das Verfassungsgericht auch bewusst. Aber das bedeutet nicht, dass seine Entscheidung politisch motiviert war.“
Die Präsidentschaftskanzlei scheint also nicht nur eine andere Rechtsmeinung als das Verfassungsgericht zu haben, sondern auch eine andere Vorstellung von der Herangehensweise an die „Lissabonner Frage“. Pavel Rychetský, Vorsitzender des tschechischen Verfassungsgerichts:
„Worum ging es? Es ging darum, dass der Senat und der Herr Präsident die sehr ernste Frage nach der Souveränität des Staates gestellt haben. Glauben Sie, dass das keine politische Frage ist? Seit dem Zweiten Weltkrieg sind wir Zeugen diverser Intergrationsprozesse, und der Begriff Souveränität kann nicht mehr so interpretiert werden, wie es in den staatswissenschaftlichen Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts steht. Das Verfassungsgericht musste also den Begriff der staatlichen Souveränität in der gloablisierten Welt des 21. Jahrhunderts abstecken. Und genau das hat es getan.“
Tschechien ist neben Irland das einzige EU-Mitglied, in dem der Vertrag von Lissabon bisher weder in einem Referendum noch im Parlament ratifiziert wurde. In Deutschland und Polen wurde der Vertrag von den Parlamenten abgesegnet, es fehlen nur noch die Unterschriften der Staatsoberhäupter. In allen anderen 23 EU-Staaten gibt es bereits grünes Licht für Lissabon. Die tschechischen Gegner des Vertrags hoffen nun auf Gleichgesinnte im Parlament. Zum Beispiel Ladislav Jakl, Chef der politischen Abteilung der tschechischen Präsidentschaftskanzlei.„Es wäre sehr schade, wenn sich die Debatte nur auf die Frage beschränken würde, ob der Lissabonner Vertrag verfassungskonform ist oder nicht. Diese Frage zu überprüfen ist zwar sinnvoll, aber es ist auch so, als ob man bei einem Autobus nur die Zulassungspapiere und den Führerschein des Lenkers überprüft. Doch ob der Bus auch in die richtige Richtung fährt, oder ob es überhaupt gut ist loszufahren, das ist eine politische Entscheidung. Und die kann dem tschechischen Parlament, also dem Senat und dem Abgeordnetenhaus, niemand abnehmen. Weder das Verfassungsgericht noch irgendjemand sonst. Die politische Entscheidung, die steht erst noch bevor.“
Der Weg für die Entscheidung im Parlament ist mit dem Urteil des Verfassungsgerichts nun jedenfalls frei. Wenn der Vertrag in beiden Kammern ratifiziert werden sollte, dann fehlt nur noch ein letzter Schritt: Die Unterschrift von Präsident Klaus.