Abkehr von der Demokratie - die Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen

Protektorat Böhmen und Mähren

Das Münchner Abkommen von Ende September 1938 bedeutete einen tiefen Schlag für die Tschechoslowakei. Sie verlor ungefähr ein Drittel ihres Gebietes - nicht nur an Deutschland, sondern auch an Polen und Ungarn. Danach blieben der „Resttschechei“, wie Hitler die Republik verächtlich nannte, nur noch fünf Monate des Lebens.

Jaroslav Šebek  (Foto: Martina Schneibergová)
Im Jahr 1938 erreichte der Streit um die deutschsprachige nationale Minderheit in der Tschechoslowakei seinen Höhepunkt. Noch im September waren Millionen Tschechen bereit, ihren Staat mit aller Kraft gegen das Deutsche Reich zu verteidigen. Das äußerte sich in der allgemeinen Mobilmachung in dem Monat. Das Ende des Streites fuhr der tschechoslowakischen Öffentlichkeit jedoch wie ein Schock in die Glieder. Mit dem Münchner Abkommen wurde der Tschechoslowakei diktiert, die sudetendeutschen Grenzgebiete ohne jeden Schuss an Hitler-Deutschland abzutreten. In der Öffentlichkeit des Landes begann man nun, den Schuldigen zu suchen - sagt der tschechische Historiker Jaroslav Šebek.

„Der Schuldige wurde relativ schnell gefunden: Es war das politische System der Tschechoslowakischen Republik. Schon in den ersten Tagen und Wochen nach dem Diktat von München wurde daher mit der Abrechnung begonnen. Die Republik war angeblich auf falschen politischen Konzepten gegründet, was ihren Untergang bedeutete. An den Pranger gestellt wurde sowohl die Idee einer einheitlichen tschechoslowakischen Nation, als auch der Wettbewerb der politischen Parteien. Die Angriffe richteten sich vor allem gegen den ersten Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk, seinen Nachfolger Edvard Beneš und die linksliberal orientierte gesellschaftliche Elite. Diese Kritik kam vor allem von Seiten jener Kreise, die bis dahin in den 20er und 30er Jahren im Hintergrund geblieben waren: von den Konservativen und der katholischen Kirche.“

Protektorát Čechy a Morava - Protektorat Böhmen und Mähren
Das demokratische System der Tschechoslowakei brach zusammen. Die politische Pluralität wurde eingeschränkt, manche Parteien wurden aufgelöst. Im Dezember 1938 wurde ein Ermächtigungsgesetz verabschiedet – nun konnte die Regierung alle Gesetze auch ohne Parlament erlassen. Zugleich durften keine neuen politischen Parteien ohne Zulassung der Regierung gegründet werden. Damit verwandelte sich die Tschechoslowakei in ein halb-autoritäres Regime. Diese Wende scheint im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung zu stehen, dass die Tschechoslowakei zwischen den Weltkriegen ein ausgesprochen demokratischer Staat war. Laut Jaroslav Šebek kam die Wende jedoch nicht unerwartet:

„Antidemokratische Tendenzen haben sich auch schon deutlich früher gezeigt. Sie hingen mit der großen wirtschaftlichen Krise Anfang der 30er Jahre zusammen. Schon damals wurden Kritiker der demokratischen Verfassung laut. Sie argumentierten, dass die Demokratie die sozialen Probleme verschärfe, anstatt sie zu lösen. Ihrer Meinung nach war eine autoritäre Regierung nötig - auch wenn der Preis die Einschränkung der politischen Freiheit war. Die konservativen und antiliberalen Kreise hielten das Münchner Abkommen für die Bestätigung ihrer Ansichten und fanden damit Verständnis bei der tschechoslowakischen Öffentlichkeit. Sie schlossen sich nun zusammen und fingen an, ihre politischen Konzepte umzusetzen.“

Radola Gajda
Zu den Strömungen, die nun Zulauf erhielten, gehörte auch der tschechische Faschismus. Ihn gab es bereits seit den 20er Jahren. Sein bekanntester Vertreter war Radola Gajda - ein ehemaliger tschechoslowakischer General, der 1933 nach einem erfolglosen Militärputsch verhaftet wurde. Nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 bekam Gajda seine Generalswürde zurück. Zuvor hatte er bereits eine national-faschistische Sammelbewegung gegründet. Dieser Zusammenschluss war deutlich antisemitisch - er setzte sich unter anderem für die Entlassung von Juden aus der Staatsverwaltung ein. Letztes Ziel war, die Gesellschaft nach Vorbild des italienischen Faschismus zu organisieren. Standesorgane sollten dort dann die Hauptrolle spielen. Die Faschisten trafen sich hierin mit den Ideen der katholischen Kirche.

„Die katholischen Kreise gingen von den Enzykliken des Papstes aus, konkret von der ´Quadragessimo Anno´ aus dem Jahr 1931. Papst Pius XI. beschrieb da einen Ständestaat als eine Art dritten Weg zwischen dem liberalen Kapitalismus und dem marxistischen Sozialismus. Diese Idee setzte zum Beispiel eine enge Zusammenarbeit zwischen den Arbeitgebern und Arbeitnehmern voraus. Damit sollte der damalige Klassenkampf abgeschafft und die soziale Gerechtigkeit gesichert werden. Der Hauptzweck des Ständestaates sollte aber sein, die politischen Parteien zu liquidieren“, so Jaroslav Šebek.

Jozef Tiso
Formal war die Tschechoslowakei auch nach dem Münchner Abkommen noch ein selbständiger Staat. In Wirklichkeit jedoch handelte sie politisch nicht mehr souverän und selbstbewusst wie in der Zeit der Ersten Republik. Die Armee wurde praktisch aufgehoben, die Polizei unterzeichnete einen Kooperationsvertrag mit der deutschen Geheimpolizei Gestapo. Die Politiker machten dabei gute Miene zum bösen Spiel - wie zum Beispiel der Minister für öffentliche Arbeit, Dominik Čipera, am Neujahrstag 1939:

„Wir erleben das Neue Jahr unter neuen Umständen. Viele Leute stellen die Frage: Ist es eigentlich möglich, nach allen den tragischen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit in unserem Land Wohlstand zu erreichen? Mein einzige Antwort lautet: Das hängt von jedem von uns ab und von unserer Arbeit. Die neue Tschechoslowakei kann ebenso große Wohlfahrt erzielen wie die alte, und das für jeden einzelnen ihrer Bewohner. Davon kann uns niemand abhalten. Wenn wir alle uns ans Werk machen, ist jegliche Furcht um den Erfolg des Ganzen überflüssig.

Die Krise, in die das Münchner Abkommen geführt hatte, war in der Slowakei besonders tief. Bereits am 6. Oktober 1938 verabschiedeten die meisten dortigen politischen Parteien ihre Forderungen nach einer staatlichen Unabhängigkeit. Einen Tag später wurde eine selbständige slowakische Regierung gebildet. als Ministerpräsident an der Spitze stand der katholische Priester Josef Tiso. Dieser Schritt wurde von den meisten Slowaken begeistert aufgenommen: Die Autonomie war zwar schon 1920 in der tschechoslowakischen Verfassung verankert gewesen, aber wurde bis dahin nicht in die Praxis umgesetzt. Jaroslav Šebek:

Das Münchner Abkommen | Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-R69173/Wikimedia Commons,  CC BY-SA 1.0
„Wie autoritär nun die Regierungsform war, das war in der Slowakei stärker zu spüren als in Böhmen und Mähren. Alle Parteien gingen in der Volkspartei auf – die Volkspartei wurde einzige politische Kraft. Ihre bewaffnete Garde, die so genannte Hlinka-Garde, übernahm offiziell die Funktionen der Polizei. Unter Billigung staatlicher Organe kam es zu antijüdischen Handlungen: Juden wurden auf den Straßen tätlich angegriffen, ihre Geschäfte boykottiert und zerstört. Verteidigungsminister Ďurčanský versprach schon im Oktober 1938 gegenüber dem deutschen Propagandaminister Göring, die so genannte ´jüdische Frage´ in der Slowakei nach deutschem Muster zu lösen. Hier wurden also die Grundlagen des späteren faschistischen slowakischen Staates gelegt.“

Zu dieser Zeit verschärfte sich auch die nationalistische Einstellung der slowakischen Gesellschaft gegenüber Tschechen. Tschechische Beamte, Lehrer, Ärzte und andere Arbeiter wurden angegriffen und vertrieben. Die Spannung zwischen beiden Nationalitäten, die in den 20 Jahren zuvor kaum spürbar war, erreichte nun ihren Höhepunkt. Die Regierung in Prag reagierte an 9. März 1939 mit der Notstanderklärung und der Verhaftung einiger Vertreter der Volkspartei. Für die Wende war es aber schon zu spät. Am 14. März 1939 rief Tiso - nach einem nächtlichen Gespräch mit Hitler in Berlin - einen eigenen slowakischen Staat aus. Am Tage darauf marschierte die Wehrmacht in den Rest der ehemaligen Tschechoslowakei ein – das Ende der zweiten Republik und der Beginn des Protektorats Böhmen und Mähren.