Persönliche Erinnerung an polnische Solidarität 1968

Ryszard Siwiec

Am 7. September 1968 legte er spät abends seine Armbanduhr auf den Nachttisch seines ältesten Sohnes und verließ das Haus. Mit dem Zug fuhr er nach Warschau. Einen Tag später hat er sich im dortigen „Stadion des Jahrzehnts“, wo das Erntefest gefeiert wurde, vor den Augen tausender Menschen und der anwesenden Staats- und Parteispitze verbrannt hat: Ryszard Siwiec. Nicht nur ihm hat Jitka Mládková ihr heutiges Feuilleton gewidmet.

Es war ein radikaler politischer Protest gegen die Besetzung der Tschechoslowakei durch die Warschauer Paktstaaten. An dieser beteiligten sich auch fast 30 000 polnische Soldaten. Ein Teil der polnischen Bevölkerung hat das als eine Schande für die gesamte Nation empfunden. Auch Ryszard Siwiec, dessen Tat trotz öffentlicher Durchführung die kommunistische Macht für ganze 20 Jahre streng geheim zu halten wusste.

Dass über ihn auch die Tschechen nichts wussten, steht außer Zweifel. Sein Name ist aber bis heute auch für die breite Öffentlichkeit hierzulande eher unbekannt. Dass es auch eine polnische Fackel gab, der nur vier Monate später die tschechische namens Jan Palach folgte, wissen leider nur wenige. Daran konnte auch Siwiec´ Auszeichnung mit dem hohen tschechoslowakischen Tomáš-Garrigue-Masaryk-Staatsorden, den ihm 2001 Präsident Václav Havel in memoriam verliehen hatte, offenbar wenig ändern.

Ryszard Siwiec verbrannte sich auf dem Stadion in Warschau
Die heutige Erinnerung an den Polen, der durch seine Tat nicht nur gegen die Okkupation der Tschechoslowakei protestierte, sondern auch vor dem totalitären Regime warnen wollte, möchte ich mit der Erinnerung an ein persönliches, für „Außenstehende“ etwa banales Erlebnis verbinden. Seit 40 Jahren kehrt es hie und da in mein Gedächtnis zurück. Und so war es auch diesmal, als ich vor wenigen Tagen aus aktuellem Anlass Neues über Ryszard Siwiec gelesen und gehört habe.

Ein paar Monate nach dem 21. August 1968 fuhr ich nach Polen, nach Katowice / Katowitz, um dort in einem Krankenhaus am Rande der Stadt einen Besuch abzustatten. Als ich das Krankenhaus etwas später verlassen hatte, stieg ich - in Gedanken vertieft - fast automatisch in ein dort wartendes Taxi ein. Der Gesichtsausdruck des Taxifahrers verriet sofort, dass ich kein erwarteter Fahrgast war. Ich durfte aber bleiben, bis eine Klientin kam, und gemeinsam mit ihr in das Stadtzentrum fahren.

Unterwegs kam dies und jenes zur Sprache, darunter auch die Okkupation der Tschechoslowakei. Doch bei diesem Thema hat unsere gemeinsame Fahrt nicht geendet. Als aber die Polin, vom Typ her eine Normalbürgerin würde ich sagen, später aus dem Auto ausstieg, spuckte sie kräftig auf den Boden mit den Worten: „Die Schweine!“ Eine Erläuterung kam unmittelbar danach. Mit Schweinen meinte sie die polnischen Politiker, die ihre Soldaten in die Tschechoslowakei geschickt hatten. Auch sie hat das als eine Schande empfunden. Für mich war es ein unsagbar starker Ausdruck der Solidarität, den ich bis heute nicht vergessen habe.