„Das Moskauer Protokoll war die Kapitulation“ – Historiker Prečan im Interview
Der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen war das militärische Ende der tschechoslowakischen Reformbewegung im Jahr 1968, des „Prager Frühlings“. Politisch jedoch wurde der Versuch, einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu bilden, erst einige Tage später bei den Verhandlungen in der Sowjetunion endgültig begraben. Dort unterzeichneten die Mitglieder des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, inklusive der wichtigsten Reformer um Alexander Dubček, am 26. August 1968 das so genannte Moskauer Protokoll – am anderen Ende des Tisches war die sowjetische Führung unter Staats- und Parteichef Leonid Breschnew gesessen. Über diese Verhandlungen und das Protokoll hat sich Till Janzer mit dem nach Deutschland emigrierten tschechischen Historiker und Zeitzeugen Vilém Prečan unterhalten
„Ich würde sagen, es war die Eigeninitiative des damaligen tschechoslowakischen Staatspräsidenten Ludvík Svoboda. Er entschied sich für die Reise nach Moskau, obwohl das tschechoslowakische Parlament, das sich in einer permanenten Krisensitzung befand, dagegen war und ihn versuchte davon abzuhalten. Denn die Sowjets waren spätestens zwei Tage nach der Invasion politisch gescheitert. Es hätte eine neue Regierung, eine neue Partei- und Staatsführung eingesetzt werden sollen – und das ist misslungen. Die Verbündeten der Sowjets im tschechoslowakischen Politbüro – Bilák, Kolder und andere – die hatten versagt. Im Politbüro standen sieben Anhänger Dubčeks gegen vier Verräter, wie wir es damals empfanden. Es gelang, die Erklärung des Politbüros im Rundfunk zu senden, und die ganze Welt wusste, dass der Einmarsch ohne Wissen und gegen den Willen der tschechoslowakischen Bevölkerung stattfand. Spätestens am zweiten Tag war zu spüren, dass die Okkupation politisch schief ging. Und da mussten die Sowjets umschalten und einen anderen Plan aufstellen. Mit Hilfe von Svoboda haben sie dann aus den in Ketten in die Sowjetunion verschleppten tschechoslowakischen Reformpolitikern Dubček, Smrkovský, Černík und anderen Partnern in so genannten Verhandlungen gemacht.“
Am Ende der Verhandlungen stand die Niederlage der tschechoslowakischen Reformer, die im so genannten Moskauer Protokoll festgehalten wurde. Dies schrieb vor, dass fast alle Reformschritte wie zum Beispiel Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit oder betriebliche Autonomie wieder zurückgenommen werden. Gab es denn gar kein Aufbäumen der Reformer in der tschechoslowakischen Delegation gegen das Diktat, das ihnen Breschnew mit dem Moskauer Protokoll vorsetzte?„Es gibt Aufzeichnungen dieser Gespräche. Alexander Dubček hat sich zu einem letzten Widerstand aufgerafft und hat in einer langen Rede seine Politik und den Reformkurs verteidigt und wollte das Moskauer Protokoll nicht unterzeichnen. Doch er hat sich dann der Mehrheit aus Svoboda und den anderen, die bereits aufgegeben hatten, gebeugt. Zugleich wurde unterzeichnet, dass das so genannte Protokoll geheim gehalten werden muss. Für die Öffentlichkeit wurde dann ein Kommuniqué vereinbart. Das wurde mit Champagner und allem Möglichen begangen, es war eine Farce auf sowjetische Art.“
Dieses Kommuniqué wurde am Nachmittag des 27. August 1968 im Rundfunk verlesen. Dort taucht auch das Wort Normalisierung auf, das bis heute gängig ist als Bezeichnung für die Ära der politischen Eiszeit ab der Niederschlagung des Prager Frühlings bis zur Wende im Jahr 1989. Das Moskauer Protokoll bedeutete also eine Niederlage, trotzdem wurden die Rückkehrer von den Bürgern in Prag und an anderen Orten der Tschechoslowakei erst einmal begeistert begrüßt. Wie kam es dazu?„Es war erst einmal eine Genugtuung, dass die Sowjets nachgeben mussten und dem tschechoslowakischen Volk die Gefangenen zurückgaben. Aber Breschnew gab sie nur zurück, damit sie die sowjetische Politik mit eigenhändig umsetzen.“
In den Ansprachen der Rückkehrer aus Moskau an das tschechoslowakische Volk wurde dies natürlich nicht gesagt. Dort sprachen alle davon, dass der Reform-Kurs fortgesetzt werde. Svoboda sagte das genauso wie Dubček. Kann man die Befürworter des Reformkurses wie Dubček oder Smrkovský nach der Unterzeichnung des Moskauer Protokolls als tragische Personen bezeichnen?
„Ja, das kann man so sagen. Sie haben in der Überzeugung gehandelt, dass sie nicht anders konnten. Es war die Politik des kleineren Übels, die dann zum größten Übel wird. Jeder von ihnen spielte dann noch so lange seine Rolle, bis die Sowjets sie nicht mehr brauchten. Danach standen bereits die anderen zur Übernahme bereit.“
Der einzige, der diese Rolle nicht gespielt hat, war der Vorsitzende des Politbüros der KPTsch, František Kriegel. Er hat als einziger das Moskauer Protokoll nicht unterzeichnet. Würden Sie dies als Heldentat bezeichnen?
„Ja, er hat gezeigt, dass es die Möglichkeit gab, nein zu sagen. Und er hat es auch in dem Wissen gemacht, dass er nicht zurückkehren würde und in Sibirien enden würde. Aber solche extremen Momente der Krise brauchen Integrität. Dubček und die anderen waren in einer Doppel-Loyalität gefangen. Sie waren zwar tschechoslowakische Politiker, aber sie waren auch Kommunisten. Und diese Loyalität der Partei und des internationalen Kommunismus gegenüber bedeutete eine schizophrene Situation.“Lässt sich zusammenfassend sagen sollte, dass das Moskauer Protokoll der Sargnagel des Prager Frühlings war?
„Es war praktisch eine Kapitulation. Damit haben sie sich verpflichtet, uns – das Volk – zu pazifizieren. Bei Dubček endete es damit, dass er ein Jahr nach dem Einmarsch, am 22. August 1969, ein Sondergesetz unterzeichnet hat, das erlaubte die Demonstranten zu verhaften, zu schlagen und verurteilt wurden, die mit seinem Namen auf den Lippen auf die Straßen gegangen waren. Für den Einsatz gegen die Demonstranten federführend verantwortlich war mit Černík, dem damaligen Premierminister, ein weiterer Reformer. Er musste dann 1970 gehen und an seine Stelle trat Štrougal.“
Zu Vilém Prečan: 1933 in Olomouc / Olmütz geboren, war er 1968 am Historischen Institut der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften tätig und wurde danach politisch verfolgt. 1976 emigrierte er in die Bundesrepublik, wo er unter anderem das Tschechoslowakische Dokumentationszentrum für unabhängige Literatur in Scheinfeld-Schwarzenberg leitete. 1990 übernahm Prečan in Prag für einige Jahre das Institut für Zeitgeschichte der Tschechoslowakischen Akademie der Wissenschaften. Vilém Prečan lebt in Tschechien und Deutschland.