22 Jahre nach Tschernobyl: Atomkraft auf dem Vormarsch?

AKW Temelín

Diese Woche jährt sich zum 22. Mal die Atomkatastrophe von Tschernobyl. Wie die meisten Teile Europas war im April 1986 auch die Tschechoslowakei von der radioaktiven Wolke betroffen. Der Super-GAU in dem ukrainischen Kraftwerk nährte weltweit die Ängste auch vor der friedlichen Nutzung der Kernkraft. Mehr als zwei Jahrzehnte danach scheint sich die Stimmung langsam zu ändern. Auch in Tschechien sind die Atomkraftgegner in der Minderheit. Zwei Kernkraftwerke hat das Land, und die stehen symbolisch für sauberen Strom und Selbstständigkeit in der Energieversorgung. Viele Politiker wären auch dem Bau weiterer Reaktoren nicht abgeneigt. Theoretisch zumindest.

„Ich ersticke!“ stand kurz vor der Wende des Jahres 1989 an so mancher tschechischer Hauswand. Das war nicht etwa symbolisch gemeint, als Seitenhieb auf die abgestandene politische Luft, sondern ganz und gar wörtlich. Der desolate Zustand der Umwelt war damals sogar eines der wichtigsten Argumente gegen die kommunistischen Machthaber.

18 Jahre später hat sich die Umweltqualität entscheidend verbessert. Viele Braunkohlekraftwerke wurden stillgelegt oder mit modernen Filteranlagen ausgestattet. Auch die beiden tschechischen Atomkraftwerke Temelín und Dukovany blasen natürlich keinen schwarzen Dreck in die Luft und werden meist als saubere Garanten der Energieversorgung betrachtet. Die Technikgläubigkeit der Tschechen spielt dabei eine große Rolle, meint Karel Dolejší von Greenpeace Tschechien. Und auch der nationale Stolz:

„Hier wurde immer auch mit einer gewissen Xenophobie gespielt. Zum Beispiel hieß es, dass Initiativen gegen Temelín aus dem Ausland unterstützt werden. Gleichzeitig hat der Betreiberkonzern ČEZ die Leute aus der Region für sich gewonnen, indem er begann, von Theatergruppen bis zu Sportklubs so gut wie jeden örtlichen Verein zu sponsern. Heute kann man über Atomkraft nur mehr sehr schwer diskutieren, denn in der öffentlichen Wahrnehmung profilieren sich hier tschechische Patrioten gegen Einflüsse aus dem Ausland.“

Vor allem mit Österreich gab es immer wieder diplomatische Spannungen rund um das südböhmische AKW Temelín. Bei den Österreichern gilt die Ablehnung der Kernkraft als nationaler Konsens. Umgekehrt das Bild in Tschechien: 77 Prozent meinen hier, die Atomkraft spielt eine bedeutende Rolle für die Unabhängigkeit der Energieversorgung, 44 Prozent der Tschechen sind sogar für den Bau weiterer Kernkraftwerke. Zu ihnen gehört Milan Urban, Wirtschaftssprecher der oppositionellen Sozialdemokraten. Auch er fürchtet eine zunehmende Abhängigkeit vom Ausland:

„Der einzig mögliche Ausweg ist allen Experten zufolge der Bau neuer Atomreaktoren. Auch wenn wir gleichzeitig natürlich Energie sparen und den Anteil an erneuerbaren Energien und Gas erhöhen müssen“, sagte Urban im Herbst vergangenen Jahres, als die Sozialdemokraten die Entscheidungskompetenz über die Atompolitik des Landes von der Regierung ins Parlament verlagern wollten.

AKW Temelín
Der Antrag wurde damals zwar vom rechtsliberalen Regierungslager abgeschmettert, aber von manchen wohl nur schweren Herzens. Hintergrund: Die Kernkraft hat auch im Kabinett ihre Unterstützer, bloß die Grünen sagen stopp: Im Koalitionsvertrag, das haben sie als kleinste Regierungspartei durchgesetzt, wird der Bau neuer Reaktorblöcke ausgeschlossen. Fraktionsvorsitzende Kateřina Jacques:

„Im Koalitionsvertrag haben wir bestimmte Prinzipien festgelegt, und die Atomkraft war dabei ein wichtiges Thema. Da kann und darf sich im Rahmen der verbleibenden Amtszeit dieser Regierung nichts ändern. Was danach kommt, nach den nächsten Wahlen, das kann ich nicht sagen. Aber für diese Legislaturperiode war das für uns eine Grenze, die nicht durchbrochen werden darf.“

Ein Dogma sei der Anti-Atom-Kurs für sie jedoch nicht, sagt Jacques:

„Für mich gibt es zwei Dinge, die in Betracht gezogen werden müssen: Sicherheit und die Zukunft des atomaren Abfalls. Wenn diese beiden Fragen gelöst sind, dann kann man auch flexibler und undogmatischer über Atomenergie nachdenken.“

Ungewöhnliche Worte für eine Grüne Fraktionschefin. Doch in Tschechien ist im Umgang mit Atomkraft eben Vorsicht geboten. Auch auf dem politischen Parkett.


Zum Thema „Atomkraft in Tschechien“ haben wir auch mit Robert Schuster gesprochen, einem Politologen am Institut für Internationale Beziehungen und freien Mitarbeiter von Radio Prag:

Unabhängigkeit der Energieversorgung oder nationales Prestige? Was ist es in erster Linie, das die meisten Tschechen, und vor allem auch die meisten tschechischen Politiker, zu Befürwortern der Kernkraft macht?

„Ich würde sagen, dass beide Aspekte im Spiel sind, wobei aber die Akzente in den vergangenen Jahren unterschiedlich waren. Vor ungefähr zehn Jahren, als es diese riesengroße Debatte um Temelín gab, war Atomkraft für viele Tschechen eine Frage des nationalen Prestiges. Viele sahen sich verletzt in ihren Empfindungen. Sie hatten das Gefühl, dass die Österreicher nicht glauben, dass die Tschechen ein technisch relativ kompliziertes System wie eben in einem Atomkraftwerk bauen und dann vor allem ohne Schwierigkeiten betreiben können. Aber in den letzten drei oder vier Jahren ist der zweite Punkt in den Vordergrund getreten, nämlich die so genannte Energiesicherheit. Also die Frage, wie wir in Zukunft unsere Energieressourcen sichern können. Denn der Verbrauch der elektrischen Energie wächst. Tschechien ist ein Industrieland, noch dazu eines, in dem es gerade in den letzten zehn Jahren einen riesigen Sprung gegeben hat, was die Entwicklung der Wirtschaft betrifft. Mit Einsparungen lässt sich die gestiegene Nachfrage einfach nicht decken. Insofern steht jetzt die Frage im Raum, ob Tschechien sich nicht doch wieder stärker der Atomkraft zuneigen sollte. Entweder durch den Ausbau der bestehenden Atomkraftwerke, oder durch den Bau von neuen.“

Einer Umfrage zufolge sind wie gesagt 77 Prozent der Tschechen der Meinung, dass die Atomkraft zur Unabhängigkeit der Energieversorgung positiv beiträgt. In derselben Umfrage beträgt der europäische Durchschnittswert 69 Prozent. So weit ist die tschechische Bevölkerung da vom europäischen Schnitt gar nicht entfernt. Kann man hier auch von einem gesamteuropäischen Trend sprechen?

„Sicher. Europa steht schon seit Jahren vor der Frage, wie es gelingen kann, die Energieabhängigkeit von Russland und anderen, relativ problematischen Regionen zu mindern. Eine Möglichkeit, wie die Europäer selbst für ihre Energieproduktion aufkommen können, ist natürlich die Atomkraft. In Europa gibt es Staaten, die immer schon massiv auf Atomkraft gesetzt haben, und wo es auch eine starke Atomindustrie und natürlich auch eine Atomlobby gibt. Frankreich zum Beispiel, oder Großbritannien. Da stellt sich auch die Frage, wie lange zum Beispiel Deutschland an dem bereits beschlossenen Atomkraft-Ausstieg festhalten kann, angesichts des Konkurrenzdrucks, den es sicherlich noch geben wird.“