Divadlo 2007: Besuch beim 15. internationalen Theaterfestival in Pilsen
45 Vorstellungen jeder Art - klassisches Schauspiel, alternatives Theater, Ballett, Puppentheater - standen auf dem Programm des diesjährigen internationalen Theaterfestivals "Divadlo 2007". Dieses fand vom 11. bis 21. September im westböhmischen Pilsen statt. Im Rahmen der 15. Theaterleistungsschau in Pilsen, trat traditionsgemäß eine Auswahl der besten Inszenierungen der vergangenen Theatersaison aus Tschechien in eine direkte Konfrontation mit dem ausländischen Theaterschaffen. Jitka Mladkova war einen Tag dabei:
Im Jahr 1993, als das internationale Theaterfestival Divadlo zum ersten Mal veranstaltet wurde, waren nur acht tschechische und vier slowakische Bühnen vertreten. Das hat sich seitdem aber wesentlich geändert. Beim diesjährigen Theatertreffen haben sich neben 17 einheimischen Ensembles auch zehn ausländische präsentiert. Gekommen sind Theatermacher zum Beispiel aus Litauen, Lettland, Ungarn, Norwegen, Polen, Frankreich und anderen Ländern. Über das diesjährige Festival informierte mich Tomas Froyda, Manager und Produzent:
"Für dieses Jahr haben wir das Thema "nordisches Theater" als Schwerpunkt gewählt, das wir mit der Dramatik aus den so genannten Visegrad - Ländern, also aus Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen vergleichen. Präsentiert werden interessante Inszenierungen aus Skandinavien und dem Baltikumraum, die wir auch dem Begriff "nordisches Theater" zuordnen."
Mit dem nordischen Theater hat die Festivaldramaturgie sozusagen eine Lücke im - wie grob es auch klingen mag - Theaterkunstmarkt gefunden. Nordisches Theater sieht man hierzulande eher selten.
"Das ist eigentlich auch die Aufgabe des Festivals: bei uns bisher unerforschte Theatergebiete zu präsentieren. Daher fiel die Wahl diesmal auf das Theater Skandinaviens und des Baltikums, da es in Tschechien eher unbekannt ist. Die Theaterproduktionen, die wir zeigen, haben ein sehr hohes Niveau. Sie sind interessant und auch sehr modern. Ich glaube, für mitteleuropäische Theatermacher kann es durchaus interessant sein, wie zum Beispiel die Norweger mit ihrem nationalen Stardramatiker umgehen. Das norwegische Nationaltheater von Oslo präsentiert hier das Stück "Wilde Ente" von Henrik Ibsen."
Ich habe hier eine ganze Reihe von Theaterschaffenden im Publikum gesehen, gehe aber davon aus, dass auch Menschen im Publikum sitzen, die in Pilsen leben und das Theater mögen. Welche Resonanz findet das Theaterfestival in dieser Stadt?
"Klar, das Festival ist nicht nur für Theaterprofis oder Intellektuelle bestimmt. Wir sind bemüht, dass es ein breites Publikumsspektrum anspricht. Ich glaube, dass es uns auch ganz gut gelingt. Wir zeigen dieses Mal 45 unterschiedliche Produktionen, jedoch nicht nur in klassischen Theaterhäusern. Wir bieten auch alternative Theatermöglichkeiten an. Hierbei geht es um die so genannten Sitespecific-Theaterprojekte. Wir haben zum Beispiel ein sehr schönes, im Jugendstil gebautes Bahnhofsgebäude, das seinem ursprünglichen Zweck nicht mehr dient. Das Haus hat eine einzigartige Atmosphäre, die sich auch auf die Stücke auswirkt. Erst zum zweiten Mal in der Festivalgeschichte wurde das Theater auch in einer Brücke gespielt. In Pilsen gibt es eine moderne Brücke, in der sich ein Hohlraum befindet. Dieser hat eine tolle Akustik und eignet sich sehr gut auch für Theatervorstellungen, daher sind alle ausverkauft. Es kommt natürlich ein spezifisches Publikum, zumeist junge unkonventionell denkende Leute. Das ist auch richtig, dass unser Festival unterschiedliche Zielgruppen ansprechen kann."
Im Pilsener Kammertheater, in dem ein Teil des Festivalprogramms ausgetragen wurde, traf ich auch den tschechischen Dramatiker und ehemaligen Kulturminister Milan Uhde, den ich ans Mikrophon bat. Auf die Frage, ob er des öfteren zu diesem Festival nach Pilsen komme, gab er die Antwort:
"Ich bin jedes Mal hier! Nicht beim Theaterfestival in Pilsen zu sein kann ich mir kaum noch vorstellen,"
Milan Uhde zu fragen, warum er nach Pilsen kam, ist also dasselbe, wenn man einen Maler fragen würde, warum er malt. Im Laufe des Jahres gibt es in Tschechien auch andere Theaterfestivals wie zum Beispiel in Hradec Kralove, Ostrava oder das Theaterfestival deutscher Sprache in Prag sowie das tschechisch-polnische Theaterfestival an der Grenze. Milan Uhde lässt sich nur wenige dieser traditionellen Leistungsschauen entgehen. Dank seiner Position als Rentner, wie er scherzhaft sagte, kann er sich das leisten, seine Freizeit bei diesen Veranstaltungen zu verbringen. Was macht für ihn das Besondere an dem Festival aus?
"Das Pilsner Festival basiert auf einer strengen Dramaturgie. "Streng" aber nicht im schulischen Sinn. Die Verantwortung für die präsentierten Titel trägt ein Team von Theaterkritikern, die die Stücke für jeden Jahrgang auswählen. Ähnliches gilt auch für das Prager Theaterfestival deutscher Sprache. Anders ist es in Hradec Kralove, wohin die teilnehmenden Theater die einzelnen Stücke aus eigener Initiative schicken. Die Dramaturgie übernimmt damit, wenn man so will, keine Verantwortung für die Unzufriedenheit der Zuschauer, wenn ihnen die ausgewählten Titel nicht gefallen. In Pilsen hingegen ist ein festes dramaturgisches Konzept allgemein gut erkennbar und beim diesjährigen Festival, das die nordische Dramatik als Schwerpunkt hat, noch mehr als sonst. Und das ist auch gut so."
Unser Gespräch spielte sich in der Pause einer Vorstellung des Prager Theaterhauses Dejvicke divadlo ab, das sich in Pilsen mit der Dramatisierung des Romans "Die Wahlverwandschaften" von Johann Wolfgang Goethe präsentierte. Der 70-jährige Theatermann Uhde hat die Vorstellung der renommierten Prager Bühne allerdings mit gemischten Gefühlen verfolgt:
"Ich muss gestehen, dass ich ein bisschen verlegen bin. Ich habe das Gefühl, dass da ein mit den Augen eines Sezessionskünstlers gelesener Goethe präsentiert wird."
Für Johann Wolfgang findet der Dramatiker jedoch nur Worte hoher Anerkennung:
"Goethe war ein Genie. Er ist ein Autor, ein Initiator, der an der Quelle von mehreren thematischen Strömen steht, die sich dann in Europa und der ganzen Welt ergossen haben. Von seinem Roman ´Die Wahlverwandschaften´ hört man nicht all zu oft. Im Theater habe ich den Titel noch nie gesehen, den Roman kenne ich aber aus meiner Lektüre. Ich bin allerdings Verehrer von Goethes Faust und immer noch auf der Suche nach dessen Sinn."
Wenn Uhde die Inszenierung des Dejvicke divadlo als "sehr stilisiert" bezeichnet, gilt diese Wertung einem der bekanntesten Theaterregisseure hierzulande:
"Die Bewegungen sind etwas balett- oder pantomimeartig und alles erinnert quasi an das Puppentheater. Ich konnte mich damit bis jetzt, in der eine Stunde und vierzig Minuten dauernden ersten Hälfte des Stückes, nicht identifizieren. Dabei ist J.A. Pitinsky ein exzellenter Regisseur. Er hat die Vorstellung im Griff, alles in einem Stil mit ausgezeichnetem Bühnenbild. Auch wenn jemand das gesprochene Wort nicht verstehen sollte, muss er allein visuell wahrnehmen, wie die ganze Stilisierung, unterstrichen durch Musik- und Gesangspassagen, perfekt durchdacht ist. Und doch passt das mit Goethe irgendwie nicht zusammen."
Milan Uhde gesteht, skandinavisches Theater nicht besonders gut zu kennen.
Seit seiner Jugendzeit allerdings liebe, lese und bewundere er auch auf der Bühne immer wieder Ibsens ´Wildente´. Mit diesem Stück kamen gleich zwei Theaterensembles nach Pilsen - das Prager Theater Divadlo v Dlouhe und das norwegische Nationaltheater Oslo, das bei seinem vorjährigen Gastspiel in New York großen Erfolg feiern konnte. Ob auch Uhde begeistert war oder nicht, konnte ich nicht mehr erfahren. Nach der spät in der Nacht beendeten Vorstellung musste ich schnell zurück nach Prag.