Die Masaryk-Tradition in der heutigen tschechischen Politik

Tomas Garrigue Masaryk

Der siebzigste Todestag von Präsident Tomas Garrigue Masaryk, dem Gründer der Tschechoslowakei, wurde zu einem Zeitpunkt begangen, an dem allmählich klarer wird, wer im Frühjahr kommenden zur Präsidentenwahl antreten wird. Wie lebendig ist in der tschechischen Politik heute noch die masaryksche Tradition? Gibt es überhaupt noch Politiker, die an das Vermächtnis des ersten Präsidenten anschließen wollen? Robert Schuster hat nach Antworten auf diese Fragen gesucht.

Freitag vergangener Woche jährte sich zum 70. Mal der Todestag des ersten tschechoslowakischen Präsidenten und Republikgründers Tomas Garrigue Masaryk. Am Vorabend des Jahrestages fand aus diesem Anlass auf der Prager Burg ein feierlicher Gedenkakt statt, an dem mit Präsident Vaclav Klaus, den Chefs der beiden Parlamentskammern Miloslav Vlcek und Petr Pithart sowie Premier Mirek Topolanek die vier höchsten politischen Vertreter des Staates Grundsatzreden hielten.

Welches Verhältnis haben die heutigen politisch Verantwortlichen zu Masaryk? Steckt da bloß die Erinnerung an eine wichtige Persönlichkeit der tschechischen Geschichte dahinter, oder gibt es heute Versuche trotz der Zeit des Kommunismus an das Vermächtnis des Staatsgründers anzuknüpfen? Das fragten wir den Politikwissenschaftler Vratislav Doubek, der im Masaryk-Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften tätig ist:

"Die Politik braucht bestimmte festgelegte Werte, sie braucht Symbole, auf die sie sich berufen kann, ohne dass es notwendig wäre, diese immer wieder aufs Neue und lang zu begründen. Und Masaryk ist eben zu einem dieser Symbole geworden und man muss sagen, dass das völlig zu Recht der Fall ist. Natürlich gab es auch andere wichtige und herausragende Persönlichkeiten, aber Masaryk schaffte es, drei völlig unterschiedliche, aber dennoch wichtige Epochen zu umspannen. Da war zu einem die Epoche der k. u k.-Zeit, dann die Phase des Ersten Weltkriegs und dann noch die Gründung der Republik. Alle diese Zeitspannen waren Phasen des Umbruchs, wo etwas Neues entstand. Die gegenwärtige tschechische Politik will zu jenen Epochen eine geistige Verbindung herstellen, bei denen es Parallelen zur heutigen Situation gibt, bei denen sich vergleichbare Merkmale feststellen lassen. Auch nach der Wende des Jahres 1989 ist ja etwas Neues entstanden - so, wie sieben Jahrzehnte vorher im Jahr 1918. Masaryk war zudem eine Gründerpersönlichkeit, ein Neuerer, ein Demokrat. Das sind alles Symbole, auf die sich die tschechische Politik beziehen kann."

Feierlicher Gedenkakt auf der Prager Burg  (Foto: CTK)
Es ist nicht uninteressant, dass gerade in diesen Tagen und Wochen sich immer stärker die Frage in den Raum drängt, welche Persönlichkeiten nächstes Jahr für das Präsidentenamt kandidieren werden. Die Reihe der tatsächlichen wie auch der vermeintlichen Kandidaten wird immer länger. Jeder tschechische Präsident wird dabei zwangsläufig mit dem Erbe Masaryks konfrontiert. Zum einen mit der Persönlichkeit des Staatsgründers und dessen Wirkung nach außen, zum anderen aber auch mit Blick auf das Amtsverständnis. Schließlich hat Masaryk dieses Amt geprägt und ihm trotz der relativ begrenzten in der Verfassung vorgesehenen Kompetenzen im informellen Bereich einen beachtlichen politischen Einfluss gesichert.

Wie sind die Nachfolger Masaryks mit diesem Erbe oder dieser Bürde - je nach Sichtweise - umgegangen? Vratislav Doubek:

"Auch wenn Präsident Klaus wahrscheinlich nicht zustimmen würde, so steht er, was sein Amtsverständnis angeht, Masaryk weitaus näher, als es dessen Vorgänger Vaclav Havel war. Der Grund ist der, dass Havel versuchte, sich stets als Präsident zu positionieren, der über der Politik und den Parteien steht. Klaus hingegen steht weitaus stärker in der Tradition des ersten Präsidenten, der ein betont politisches Staatsoberhaupt war. Masaryk ist hier sicherlich ein gewisser Maßstab, weil er der erste Präsident war und seine Position somit einzigartig ist, auch im Vergleich zu seinen unmittelbaren Nachfolgern. Es wird also in diesem Zusammenhang immer eine historische Parallele geben, der sich bestimmt auch die kommenden Bewerber für das Präsidentenamt in Tschechien bewusst sein werden - und wenn nicht, dann werden sie darauf von Seiten der Medien aufmerksam gemacht werden."

Feierlicher Gedenkakt auf der Prager Burg,  links: Präsident Vaclav Klaus  (Foto: CTK)
In der ersten Tschechoslowakischen Republik war eine kritische Auseinandersetzung mit der Person Tomas Masaryks unmöglich. Er war praktisch unantastbar - nicht zuletzt auch wegen des so genannten "Väterchen-Kults", der sich um seine Person entwickelte. Dann kam die Zeit des Kommunismus, die ebenfalls eine objektive Behandlung dieses Themas unmöglich machte und die Persönlichkeit des Staatsgründers in eine ideologische Schublade zu zwängen versuchte. Wie ist es heute um die Forschung zum Thema Masaryk bestellt? Werden heute zum Beispiel auch dessen politische Entscheidungen kritisch hinterfragt? Hören Sie dazu den Masaryk-Forscher Vratislav Doubek:

"Im Gegenteil, ich meine sogar, dass es auch in den ersten Jahren eine permanente Konfrontation mit Masaryk gab. Es ging dabei vor allem um den Vergleich zwischen dem Präsidenten und der Rolle, die der einstige österreichische Kaiser - also vor allem Kaiser Franz Joseph - innehatte. Dieser Vergleich war sehr stark und fand praktisch unentwegt statt. Natürlich ging Masaryk als der Bessere aus diesem Vergleich hervor. Die tschechoslowakische politische Tradition, die durch Masaryk begründet wurde, wird als progressiv und modern verstanden, im Gegensatz zur rückständigen österreichischen Tradition. In dieser Hinsicht hatte Masaryk einen großen Vorteil und zwar auch, wenn hinter ihm nicht die ganze Aura des Staatsgründers gestanden hätte. Was die tagesaktuelle Tätigkeit Masaryks angeht, so muss man feststellen, dass er bei den Konflikten, die er ausgetragen hat, fast nie der Verlierer war. Seine politischen Entscheidungen traf er stets sorgfältig und seinen Widersachern gelang es nur selten ihn in die Enge zu treiben. Jegliche Kritik an Masaryk wurde in der Zeit nach 1918 tatsächlich als etwas verstanden, was die Autorität des neuen Staates in Zweifel stellt. Es gab aber einige Punkte, wo Masaryk inkonsequent blieb. Dazu gehört zum Beispiel die Trennung zwischen Staat und Kirche, oder das Verhältnis zum Vatikan. Hier von Fehlern im Zusammenhang mit seiner Amtsführung zu sprechen, wäre aber vielleicht übertrieben. Es sind aber Fehler individueller Art, die mit Masaryks Charakter zusammenhingen."

Sind heute mit dem Abstand von siebzig Jahren alle Aspekte von Masaryks Wirken ausreichend beleuchtet? Oder gibt es auf Grund des beträchtlichen zeitlichen Abstands heute neue Interpretationen? Hören Sie dazu abschließend noch einmal den Masaryk-Forscher Vratislav Doubek vom Masaryk-Institut der Akademie der Wissenschaften:

"Auf der einen Seite würde ich sagen, dass das Interesse an Masaryk aus kritischer und wissenschaftlicher Sicht auch wieder ein wenig einseitig war. In den 90er Jahren eröffneten sich viele Möglichkeiten dieses Thema anzugehen und zu bearbeiten. Auf einmal wurde ein so markantes Thema daraus, dass dadurch oft zusammenhängende Themen, oder Persönlichkeiten gänzlich überdeckt wurden. Jetzt befinden wir uns also in einer Phase, in der es notwendig sein wird diese Überrepräsentanz zu korrigieren. Was neue Interpretationen angeht, sind wir heute natürlich bedeutend weiter, was die Möglichkeit des Studiums in den Archiven angeht. Dennoch habe ich nicht das Gefühl, dass man sagen könnte, dass eine Etappe beim Studium von Masaryks Werk für abgeschlossen erklärt werden könnte. Natürlich befassen sich mit dem Thema heute auch viele junge Forscher, die auch neuere Sichtweisen an den Tag legen, aber es ist nicht so, dass sie das bisher erforschte völlig überarbeiten würden, sondern sie sind mehr interdisziplinär ausgerichtet und somit breiter angelegt. Das ist heute sicherlich bunter. In den 90er Jahren lag der Akzent allzu stark auf historischen Forschungen, oder getrennt davon auf den philosophischen, oder soziologischen Forschungen über Masaryk. Heute ist das wesentlich breiter."