Ein Herr Historiker ist gestorben - Dusan Trestik in memoriam
Am 27. August dieses Jahres ist der tschechische Historiker Dusan Trestik verstorben. Im April dieses Jahres war zu Gast im Tschechischen Rundfunk. Wir bieten Ihnen eine gekürzte Fassung an:
"In der Nacht zum letzten Donnerstag ist Dusan Trestik gestorben. Der Herr Historiker. Der ernste Mann mit einem leicht traurigen Gesichtsausdruck hat immer wieder die Nerven unserer Aufklärer mit seiner provokanten These strapaziert, dass es notwendig sei, die tschechische Nation neu zu definieren. Für ihn galt die Nation nicht als etwas seit eh und je Gegebenes, sondern er verstand sie als Identifizierung mit gemeinsamen Ideen und dem daraus folgenden Engagement. Dabei hat er uns Tschechen vor allem in europäischen Zusammenhängen gesehen."
So Senator Petr Pithart in einem Nachruf auf den verstorbenen Historiker. Dem Thema "Staat und Nation" beziehungsweise "die tschechische Nation und Europa" galt ein Teil seines letzten Gesprächs mit dem Tschechischen Rundfunk:
Stichwort "europäische Geschichte" im Blickfeld des Vorschlags der bundesdeutschen Schulministerin von der Leyen, ein einheitliches Lehrbuch der europäischen Geschichte zu schreiben.
"Das ist ein älteres Projekt, ich glaube ein EU-Projekt. Es gibt auch eine Kommission, die dazu eine Zeitschrift herausgibt. Bisher ist aber niemandem eingefallen, dass daraus so schnell ein verbindliches Geschichtsbuch entstehen könnte."
Wenn man von europäischer Geschichte und der Geschichte der Idee eines vereinten Europas spricht, was soll man darunter verstehen?
"Über die Geschichte der europäischen Idee wurde schon viel geschrieben. Die Geschichte Europas als solche existiert aber nicht. Sollte man sie schreiben, wäre es die Geschichte einzelner ausschlaggebender Tendenzen, sie würde aber nicht das Lebendige enthalten. Wenn sie zum Beispiel von einer Historikerkommission geschrieben werden sollte, in der jedes Land durch einen oder zwei Historiker vertreten wäre, würde im Falle ihrer Übereinkunft ein sinnloser Text entstehen."
Wäre da überhaupt eine Einigung möglich?
"Bei einigen Themen würde man sie nur schwer finden. Zum Beispiel im Falle der bekannten Schlacht auf dem Amselfeld in Kosovo. Für diese gibt es mindestens 20 Interpretationen, die alle absolut unterschiedlich sind. Ähnliches trifft für eine ganze Reihe von Schlüsselmomenten der Geschichte Europas zu."
Herr Trestik, Sie werden nicht selten als postmoderner Historiker bezeichnet. Was sagen Sie dazu?
"Die Bezeichnung ´Moderne´, deren Beginn zwar schon im 16. Jahrhundert zu suchen ist, bezieht sich vor allem auf das 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert. Auf eine Epoche also, die vom Fortschritt als tragender Idee geprägt war und deren Fundament der Nationalstaat bildete. Diese Zeiten sind aber vorbei. Die Sicherheiten jener Zeit, sagen wir die eines Jules Verne, sind auch vorbei. Jetzt sucht man nach einer neuen Verankerung. Diejenigen, die auf der Suche sind, an den ´ewig gültigen Wahrheiten´ zweifeln, werden als Postmodernisten bezeichnet. Manchmal ist es auch als Schimpfwort gemeint."
Waren Sie es, der sich nach der Wende 1989 als erster Historiker bei uns mit einer neuen Definierung des Inhalts des Begriffes "Nation" befasst hat?
"Nein, ich war nicht der Erste. Das war Ernst Gellner, der als Rentner nach Tschechien zurückkehrte, aber bald danach starb. Ernst Gellner ist eine große Persönlichkeit auf dem Forschungsgebiet Nation und Nationalismus. Dann gab es bei uns auch Jan Patocka und schließlich auch den bereits verstorbenen Vladimir Macura, Autor des wunderbaren Buches über die Epoche der tschechischen Wiedergeburt. Er wehrte sich gegen die Theorie, dass damals in der Wiedergeburtsperiode die tschechische Nation entstand.
Der Nationalstaat ist tot, was bildet also das Fundament des heutigen Staates? Wie lässt sich aus Ihrer Sicht heute der Begriff "Nation" definieren?
"Es ist wie immer. Es geht um eine Gemeinschaft von Menschen, die sich für das Leben in einen gemeinsamen Staat entschlossen hat, um gemeinsame Ziele zu verfolgen. In diesem Sinne gilt, dass der Staat und die Nation eins sind."
So wie es dem westlichen Staatsmodell entspricht? Dem französischen etwa? Gilt aber dieses Modell gerade in Bezug auf Frankreich nicht als überwunden?
"Kann sein, es steht uns aber nichts anderes zur Verfügung!"
Sie haben mal gesagt, die Geschichte kann man nicht für seine Kollegen im Büro schreiben, Geschichtsbücher müssen ein Publikum haben. Für Sie bedeutet das also, die Geschichte als eine Story zu erzählen. Haben also die Tschechen heute eine eigene "Geschichtstory" im Sinne der gerade von Ihnen definierten Nation?
"Wir haben nur das, was einst unser Josef Palacky verfasst hat. Etwas Neues haben wir nicht. Bei Palacky geht es nicht um Begegnungen und Auseinandersetzungen mit den Deutschen. Das war für ihn keine Leitidee. Der Hauptgedanke seiner Geschichte fußte in der Überzeugung, dass der Sinn der Existenz der tschechischen Nation in ihrer Eingliederung in den europäischen Kontext liegt. Für einen Höhepunkt dieses Prozesses hielt er das Hussitentum, das als Vorreiter der Reformation die neue europäische Idee im Sinne der späteren Aufklärung geschaffen hatte. Etwas anderes, das genauso gut, überzeugend und eindeutig wäre, haben wir nicht. Alles, was später Masaryk oder Palackys Gegner Pekar schrieben, waren nur Varianten des bereits Vorhandenen."
In einem Ihrer früheren Interviews haben Sie gesagt, dass Sie selbst Lust hätten, die Geschichte der tschechischen Nation zu schreiben, wenn Sie etwas jünger wären. Was wäre der Leitfaden der von Ihnen erzählten Geschichte?"Es wäre die tschechische Geschichte als eine Serie von Transformationen. Die erste wäre die Christianisierung und Entstehung des böhmischen Staates. Beides lief parallel, Hand in Hand. Es war etwas Großartiges - eine ideelle und soziale Revolution, begleitet von der Öffnung des Landes gen Westen. Die zweite, bisher nicht ausreichend gewürdigte Transformation, würde das 13. Jahrhundert betreffen. Damals erlebten die böhmischen Länder einen stürmischen Aufschwung. Es wurden neue Städte gegründet, riesige Landstreifen kolonisiert und in landwirtschaftlich genutzte Flächen umgewandelt, als Baumaterial wurde das bisher verwendete Holz durch Stein ersetzt usw. Der Höhepunkt kam im 14. Jahrhundert unter Karl IV. Diese Transformationsperiode war genauso bedeutend wie die spätere im 19. Jahrhundert, nämlich die Industrialisierung Böhmens, während der sich ein kompletter Umbau des Lebens hierzulande vollzog."
Im 19. Jahrhundert ist nach Ihrer Auffassung die heutige tschechische Gesellschaft geboren worden. Jedermanns Familiengeschichte reiche eigentlich in das 19. Jahrhundert zurück, als unsere Vorfahren vom Lande in die industrialisierten Gebiete umsiedelten. Ein Teil von ihnen musste das büßen, der Großteil aber habe den Sprung geschafft und eine neue Karriere aufgebaut. Worauf lässt dieser Werdegang der Nation schließen?
"Diese mit Schweiß und Blut hart bezahlten Karrieren, das ist der genetische Code unserer Nation. Daran lässt sich gut dokumentieren, wie vollkommen unterschiedlich die Industrialisierung hierzulande und die in Richtung Osten verlief. Nehmen wir bei uns als "Stichjahr" etwa 1860, im Osten 1960 - das war die sozialistische Industrialisierung nach dem Motto: Man baue in einer Kreisstadt eine Fabrik, daneben eine Plattenhaussiedlung, in die Leute vom Lande umgesiedelt werden, und eine Kaserne wegen junger Frauen, damit sie Pendants zum Heiraten finden - das alles gratis und unter dem Deckmantel des Gulaschsozialismus."
Doch auch im aktuellen Geschehen sieht Trestik klare Zusammenhänge mit unterschiedlichen Entwicklungen verschiedener Länder in der Vergangenheit. Die jüngsten Turbulenzen um Solidarnosc, um Andrzej Lepper und einige andere Politiker in Polen, oder Ereignisse in Ungarn bezeichnet er als das Erbe der einst nicht erfüllten Ambitionen. Sollten etwa die Polen oder Ungarn die Definition ihrer eigenen Nation auf einer anderen Grundlage aufbauen?
"Selbstverständlich. Das sind doch Adelsnationen, die auf eine lange Geschichte zurückblicken können. Gerade im 13. Jahrhundert enstand hier in Böhmen eine normale Adelsschicht nach westlichem Vorbild. In Polen und Ungarn kam es nicht dazu. Während der gesellschaftlichen Transformation um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert ist dort jeder, der den Status einer freien Person hatte, zum Adeligen geworden. Das führte letzten Endes dazu, dass Adelige den Großteil der ökonomisch aktiven Bevölkerung dartellten. Ein Beispiel. Der Großvater meiner Frau, einer Polin aus Warschau, arbeitete persönlich mit Pflug auf seinem Feld, weil er kein Geld für einen Knecht hatte. Das Feld pflügte er allerdings mit einem Säbel am Gürtel, damit jeder sehen konnte, dass er ein Adeliger ist. Das war das Fundament, auf dem der polnische und ebenso der ungarische Staat gebaut wurden. Unsere Nation hingegen formte sich aus gewöhnlichen Dorfbewohnern."
Abschließende Fragen an Dusan Trestik: Soll der Historiker "schöne Geschichte" schreiben oder eher nach der Wahrheit suchen? Ist die Geschichtsschreibung ein Wettlauf unterschiedlicher Theorien? Ist es gut, mehrere und nicht nur eine Geschichtsinterpretierung zu haben?
"Selbstverständlich. Das ist eine grundlegende Voraussetzung. Heutzutage sind sich die Geschichtsphilosophen über die kommunikative Auffassung der Wahrheit einig: Die Wahrheit ist das, was man in einer sachlichen Diskussion als Wahrheit aushandeln kann."