Prachatice: Stadt des "gebrochenen Herzens"
Prachatice ist seit Anfang August die Stadt des gebrochenen Herzens. Denken Sie an Liebeskummer dabei? Weit gefehlt. Weder sind die Bürger der südböhmischen Kleinstadt um eine verkaufte Braut gekommen, noch ist sie einem Herzensbrecher a la Don Juan zum Opfer gefallen. Das Herz - "srdce" - benennt im Tschechischen auch das, was auf Deutsch Klöppel genannt wird. Der Teil, der die Glocke zum Klingen bringt. Warum ein zerbrochener Klöppel in Prachatice für Unruhe sorgt, hat für Sie Anne Lungová in Erfahrung gebracht.
Der Klang der Glocke mit dem schönen Namen "Salve" ist verstummt. Seit am 1. August der Klöppel während des Läutens in zwei Teile zerbrach, ist die Glocke aus dem Jahre 1521 außer Betrieb. Touristen und Besucher, die den Südturm der katholischen St.-Jakobs-Kirche besteigen, kommen an dem zerbrochenen Klöppel und der Glocke vorbei, müssen sich aber mit dem Rundblick auf die gut erhaltene Altstadt begnügen. Der Glocke beim Läuten zuzuhören ist vorerst nicht möglich. Doch was in anderen Städten eher am Rande wahrgenommen wird und mancherorts sogar als Lärmbelästigung bekämpft wird, ist in Prachatice seit je her beliebte Tradition. Seit über 400 Jahren wurde hier nicht nur sonntags vor dem Gottesdienst geläutet, sondern jeden Tag gleich dreimal. Um 7 Uhr morgens, 12 Uhr mittags und 10 Uhr abends. Und das bis vor einigen Jahren noch ohne elektrischen Antrieb, sondern von Hand, wie der Glöckner Jan Sramek bestätigt:
"Ich bin gebürtig aus Prachatice, auch meine Eltern sind hier geboren. Von klein auf sind wir gemeinsam mit meinem Vater und mit Freunden und Geschwistern auf den Prachaticer Kirchturm gestiegen, um die Glocken zu läuten. Ich habe mit 15 Jahren damit angefangen und habe ihn viele Jahre lang begleitet."
Die außerordentliche Bedeutung des Glockengeläuts ist abhängig von der besonderen geographischen Lage der Stadt. Ein bedeutender mittelalterlicher Handelsweg, der so genannte "Goldene Steig", führte an Prachatice vorbei und verband das Städtchen mit dem bayerischen Passau an der Donau. Wie Pfarrer Josef Slacik erklärt, ist vor allem das Läuten um 10 Uhr abends dem Handelsweg zu verdanken. Dank des Glockenklangs konnten Händler, die ihre Waren auf Lasttieren transportierten, erkennen, dass die Stadt in Reichweite liegt. Auch wenn heute auf diesem Wege keine Händler, sondern vielmehr Touristen nach Prachatice kommen, sind die Prachaticer ohne ihr dreimal tägliches Glockengeläut unruhig. Befürchten sie, dass nun, wie der tschechische Volksmund sagt, der zerbrochene Klöppel eine Katastrophe für Land und Leute nach sich ziehen könnte? Für Jan Sramek ist dies undenkbar:
"Ich glaube nicht an so etwas und hoffe, dass es eine große Ausnahme einmal in all den Jahrzehnten ist. Auch glaube ich nicht, dass in nächster Zeit der Glocke noch einmal etwas zustoßen wird."
Nachdem vor fünf Jahren, am 15. Juni 2002, der Klöppel der größten Glocke Tschechiens im St.-Veits-Dom in Prag zerbrach, sahen viele Menschen kurz darauf den Volksmund bestätigt. Denn zwei Monate später überflutete das Jahrhunderthochwasser weite Teile des Landes. Doch ähnlich wie bei dem vier Tonnen schweren Klöppel der Prager Sigismundglocke sind auch die Prachaticer glücklich, dass niemand beim Bruch des Klöppels zu Schaden gekommen ist. Die Einwohner von Prachatice wollen nun so schnell wie möglich ihren Glockenklang zurück und scheuen nicht vor dem Aufstieg auf den Turm, um selbst nach "ihrer" Glocke zu sehen. Pfarrer Slacik sieht sogar die Möglichkeit, zum traditionellen Handbetrieb zurückzukehren - das kann jedoch bis zu einem halben Jahr dauern. Für die Bürger wird das erste Geläut nach der Reparatur zum besonderen Salvegruß, und Prachatice wieder zur Stadt der frohen Herzen.