Die Strümpfe von Tycho Brahe - Prager Alltag im Museum
Prähistorische Pfeilspitzen und Feuersteinsplitter, mittelalterliche Prachtwaffen und Münzfunde sowie die Prunkketten längst vergessener Bürgermeister - all das gibt es im "Museum der Hauptstadt Prag", dem Prager Stadtmuseum, zu sehen. Daneben aber bewahren die Sammlungen des Museums auch den ganz normalen Alltag der Prager Bürger - Lebensart und Lebensweise vergangener Zeiten. Werfen Sie mit uns in den Kapiteln aus der Tschechischen Geschichte einen Blick in die Depositare des Museums.
Tomas Dvorak ist im Museum der Hauptstadt Prag für die zeitgeschichtlichen Sammlungen zuständig. Nicht nur die urbane und architektonische Entwicklung der Stadt will das Museum festhalten, sondern in einer Vielzahl unterschiedlichster Exponate auch das ganz gewöhnliche Alltagsleben der Prager Bürger in vergangenen Zeiten. Die Stücke kommen dabei gelegentlich auf verschlungenen Wegen in die Sammlung, erzählt Tomas Dvorak:
"Vor kurzem haben wir Fundstücke bekommen, die Bauarbeiter aus der Moldau gefischt haben, als die Kaimauern renoviert worden sind. Von einigen Dingen, zum Beispiel einer Petroleumlampe, war nur noch ein bröselnder Torso übrig, anderes war erstaunlich gut erhalten - etwa ein Küchenmesser oder altes Geschirr, das wir gerne als Bereicherung unserer Sammlung genommen haben."
Haushaltsgegenstände, Drucksachen, Dokumente oder Produkte des Prager Gewerbes - der Sammlungstätigkeit sind kaum Grenzen gesetzt. Vor allem keine zeitlichen: Schon heute trägt das Museum das zusammen, was spätere Generationen einmal am beginnenden 21. Jahrhundert interessieren könnte. So wird etwa das kulturelle und politische Leben in Prag systematisch dokumentiert. Aber auch scheinbare Nebensächlichkeiten finden ihren Weg in die Sammlungen - das ganz Alltägliche eben:
"Verständlicherweise werfen unsere Mitarbeiter von ihrem Naturell her Dinge nicht gerne weg. Viele bringen das mit, was ihnen interessant scheint - zum Beispiel Reklameflugblätter von Supermärkten, aber auch die eigenen Strom- und Telefonrechnungen, weil das in 100 Jahren vielleicht mal interessant sein kann, welche Ausgaben ein Prager zu Beginn des 21. Jahrhunderts hatte."
Stadthistorische Kostbarkeiten und interessante Einzelstücke erwirbt das Museum gelegentlich in Altwarenläden und bei Antiquitätenhändlern. In den Sammlungen findet sich aber auch eine reiche Zahl von Alltagsdokumenten, angefangen von Eintrittskarten bis hin zu altertümlichen Brillen - unscheinbare Dingen, denen erst heute, mit zeitlichem Abstand, ein besonderer Wert zugemessen wird.
"Das kommt auch daher, dass wir gelegentlich Nachlässe von Leuten bekommen, die daheim alles Mögliche aufgehoben haben, was sich bei ihnen so angesammelt hat. Das sind meist ganz gewöhnliche Leute, und für uns dienen solche Nachlässe als Dokumente des Alltagslebens. Nichtsdestotrotz, wenn man so einen Nachlass vor sich ausbreitet, dann hat man praktisch den Lebenslauf dieses einen Menschen vor sich."
Ein solcher Sammler seiner selbst war etwa Eduard Pokorny, ein Prager Polizeirat, der sonst nicht weiter auf sich aufmerksam gemacht hat. Dennoch ist sein Nachlass einer der kleinen Schätze des Stadtmuseums - eine detaillierte Prager Biographie des 20. Jahrhunderts, so Tomas Dvorak:
"Wir haben seinen Karten fürs Nationaltheater noch aus der Schulzeit, seine Mitgliedskarte für den Akademischen Juristenbund, seine Korrespondenz aus der Universität und aus späteren Zeiten, als er schon als Polizeibeamter in Aussig und Eger gearbeitet hat. Aber wir haben auch seine Straßenbahn-Jahreskarten aus den 20er und 30er Jahren. Daraus sehen wir zum Beispiel, dass er immer im Juni Urlaub gehabt hat, weil für diesen Monat keine Marke eingeklebt ist. Wir haben seine Schneiderrechnungen, Quittungen für das Zeitungsabonnement, Belege für seine gesellschaftlichen Tätigkeiten. Das sind alles zum einen Dokumente der Zeit, aber wenn man das in der Zeitlinie nebeneinander legt, dann lässt sich daran auch sein Leben nachverfolgen, obwohl es sich nicht um einen irgendwie herausragenden Menschen gehandelt hat."Zweifelsohne ein herausragender Mensch war dagegen Tycho Brahe, der Prager Hofastronom Kaiser Rudolfs II. und Freund von Johannes Kepler. Von ihm sind nicht nur astronomische Arbeiten erhalten geblieben. Das Prager Stadtmuseum verfügt auch über höchst alltägliche Gegenstände des 1601 gestorbenen Renaissance-Sternenforschers - sicher mit die kuriosesten Stücke der Sammlung, meint Kurator Tomas Dvorak:
"Direkt aus dem Grab von Tycho Brahe haben wir seine Strümpfe und Schuhe. Vor kurzem haben wir sie erst für eine Ausstellung nach Dänemark ausgeliehen. Das ist schon bemerkenswert, dass die Strümpfe all die Jahrhunderte überlebt haben. Zu uns sind die Sachen gekommen, nachdem das Grab von Tycho Brahe in der Teynkirche am Altstädter Ring irgendwann um die Jahrhundertwende geöffnet worden war. Das war eine Zeit, in der man sich der Vergangenheit auch mit solchen groben Methoden angenährt hat. Aus heutiger Sicht erscheint das vielleicht unethisch, aber heute jedenfalls haben wir diese Sachen in der Sammlung."
Sogar Markantes aus dem Prager Stadt- und Straßenbild bewahrt das Museum - Denkwürdigkeiten, die oft jahrhundertlang zum alltäglichen, vertrauten Stadtbild gehört haben. Etwa der gusseiserne Trinkbrunnen, der im Smichover Kinsky-Garten Generationen von durstigen Spaziergängern gedient hat. Bei einer Neugestaltung des Parks konnte ihn das Museum erst vor kurzem in seine Sammlungen retten. Ein besonderes Prunkstück ist auch der zentnerschwere Prellstein, der am Cafe Union die Hausecke vor allzu knapp gezirkelten Wagenrädern geschützt hat. Der barocke Stein mit dem skurrilen Mohrenkopf ist das einzige Überbleibsel des berühmten Cafes, letzter Zeuge einer großen Tradition, erzählt Tomas Dvorak.
"Das Café Union ist schlechterdings ein Begriff in der tschechischen Literaturgeschichte - hier haben sich bedeutende Tischgesellschaften zusammengefunden, Künstler und Literaten. Das Haus wurde in den 1950er Jahren abgerissen, geblieben ist nur der Prellstein. Zwar gibt es noch Fotos, aber das ist etwas anderes - der Prellstein ist heute eines der letzten und prägnantesten gegenständlichen Erinnerungsstücke des Cafés."
Der Alltag in den Prager Cafes, das ist derzeit das große Thema von Museumskurator Tomas Dvorak. Für das kommende Jahr bereitet er eine Ausstellung über die weitgehend untergegangene Prager Kaffeehauswelt vor. Auch auf seiner Wunschliste für die Sammlung steht das Kaffeehaus daher derzeit ganz weit oben:
"Wir suchen noch Gegenstände aus den berühmten Prager Kaffeehäusern - das fehlt uns derzeit am meisten. Von vielen klassischen Prager Kaffeehäusern ist heute nichts mehr erhalten. Von diesen Cafés noch etwas zu finden, zum Beispiel Möbel aus dem Café Arco, der Tisch, an dem Franz Kafka gesessen hat - das würde uns wirklich freuen!"