Der "Prager Mittag" - die kurze Geschichte einer Emigrantenzeitung

Europa in den 1930er Jahren. Während die Welt ringsum im Meer des Totalitarismus versinkt, ist die Tschechoslowakei für einige Jahre die letzte Insel der Freiheit in Mitteleuropa. Viele politisch Verfolgte des Nazi-Regimes suchen hier Zuflucht, darunter auch Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle. Einige wenige Jahre lang konnte in Prag sogar eine deutschsprachige Emigrantenzeitung erscheinen, der "Prager Mittag". Thomas Kirschner stellt ihnen die kurze Geschichte des Blattes vor.

"Bis jetzt gab es keine eingehendere Arbeit zum ´Prager Mittag´. Das Blatt ist wirklich vergessen, und wie ich meine, zu unrecht."

Das sagt die junge Medienwissenschaftlerin Alice Horackova. Sie hat sich nun erstmals ausführlich der kurzen, aber eindrücklichen Geschichte der Zeitung angenommen. Nur fünf Jahre erschien der "Prager Mittag" - von 1933 bis 1938, von der Machtergreifung der Nazis in Deutschland bis zum heraufdämmernden Ende der Tschechoslowakei. Gemacht wurde das Blatt überwiegend von deutschen und später auch österreichischen Emigranten - Schriftsteller, Journalisten und Intellektuelle, die vor dem Nazi-Terror nach Prag geflohen waren.

"Warum sind die Schriftsteller, Dichter und viele andere Menschen gerade in dieses Land gegangen? Weil sie sich in diesem Land zu Hause fühlten, und zu Hause fühlt man sich, wenn man sich in einer Landschaft wieder kennt, oder in einer Sprache und Kultur."

So erklärt der Journalist und Autor Jürgen Serke, der sich bereits seit langem mit dem Exil in der Tschechoslowakei befasst, die engen Verbindungen nach Prag. Vor allem für Menschen des Wortes war die liberale Tschechoslowakei die erste Wahl - mit drei Millionen tschechoslowakischen Deutschen fanden emigrierte Schriftsteller und Journalisten im Land ein Publikum:

"Es war das beste Exilland, das es in Europa gegeben hat. Hier wurde man aufgenommen - natürlich hatte man hier auch seine Schwierigkeiten, aber zugleich gab es deutsche Zeitungen, es gab Arbeitsmöglichkeiten für deutsche Schriftsteller."

Und es gab für Emigranten die Chance, selbst etwas Neues aufzubauen. Davon zeugt der "Prager Mittag", gegründet von dem prominenten Berliner Zeitungsmann Franz Höllering. Er hatte sein Erfolgskonzept mit in die Emigration genommen, berichtet Alice Horackova:

"Die Ambition war, an die erfolgreiche Berliner Zeitung am Mittag anzuknüpfen, von der ja auch Chefredakteur Franz Höllering gekommen war. Idee war, ein populäres, aktuelles, buntes Tageblatt zu schaffen, das rasch auf Ereignisse reagieren kann, dem Leser aber zugleich auch Unterhaltung bietet. Es gab Mode, Humor, Fortsetzungsromane, eine Schachrubrik und natürlich eine starke Sportseite."

Die wurde zeitweise von dem jungen Friedrich Torberg redigiert, der nicht nur erklärter Sportfex war, sondern damals auch gerade seinen Romanerstling "Der Schüler Gerber" vorgelegt hatte. Seine Karriere als Sportjournalist, erinnert sich Torberg Jahre später in der "Tante Jolesch", nahm aber ein jähes Ende - eine Meldung über eine neue Bestleistung des amerikanischen Weltrekord-Schwimmers Peter Fick hatte er arglos mit der Überschrift ´Neuer Fick-Rekord´ versehen. Die Herausgeber waren nicht amüsiert.

Weitere Mitarbeiter des "Prager Mittags" waren etwa der Zeichner Erich Godal, der Publizist Hans Sahl oder der Theaterkritiker Emil Faktor - allesamt Emigranten aus dem Reich. Beiträge veröffentlichten in dem Blatt unter anderem Alfred Kerr, Joseph Roth und der gebürtige Prager Willy Haas, der 1933 vor den Nazis zurück in seine Heimatstadt geflohen war. Faktisch war der "Prager Mittag" damit ein Emigrantenblatt, meint Alice Horackova, auch wenn die Zeitung keineswegs nur Schicksalsgenossen ansprechen wollte:

"Die Zeitung hat sich von Anfang an als Blatt der demokratisch gesinnten Deutschen in der Tschechoslowakei profiliert, aber eine Reihe von Merkmalen und schließlich auch rückblickende Aussagen der beteiligten Redakteure erlauben es, von einer Emigrantenzeitung zu reden. Den Großteil der Redaktion stellten Emigranten aus Deutschland und später Österreich, auch wenn eine Reihe von ihnen böhmische Wurzeln hatten. Ohne die Nazi-Repressionen wäre die Zeitung niemals entstanden, weil alle Redakteure an ihren Stellen beim Berliner Tageblatt, beim Börsenkurier oder der Berliner Zeitung am Mittag geblieben wären."

Der "Prager Mittag" nimmt auch in aufgewühlten Zeiten kein Blatt vor den Mund: Ausführlich wird über den Nazi-Mord an dem Philosophen Theodor Lessing in Marienbad berichtet. Unter dem Titel "Gerhart Hauptmanns Schande" prangert Alfred Kerr im "Prager Mittag" die opportunistische Haltung des alternden Dichterfürsten gegenüber dem neuen Regime scharf an. In Deutschland wird der "Prager Mittag" wenige Wochen nach dem ersten Erscheinen verboten, in Österreich gibt es immer wieder Verbote und Konfiskationen. Aber auch in der liberalen Tschechoslowakei macht sich das Blatt in konservativen Kreisen viele Feinde:

"Soweit man feststellen kann, gab es stürmische Reaktionen vor allem von der rechten Presse, die der Zeitung vorwarf, die Beziehungen zu Deutschland zu belasten. Aber wie die Geschichte dann ausgegangen ist, das weiß man ja heute."

Im Jahr 1938 ziehen sich die braunen Gewitterwolken schließlich auch über der Tschechoslowakei zusammen. Nach dem Münchner Abkommen muss Prag im Herbst 1938 das Sudetenland abtreten; der Nationalsozialismus rückt näher. Kurz darauf fügt sich die Redaktion des "Prager Mittags" ins Unausweichliche:

"Das Blatt wurde am 19. Oktober 1938 eingestellt, freiwillig, wie man voraussetzen darf, auch wenn es natürlich einen bestimmten Druck gegeben hat. Die Redaktion hat mehr oder weniger der Zeit voraus gegriffen und die Entscheidung über die Einstellung selbst getroffen. Verabschiedet hat sich die Redaktion mit einer emotionsgeladenen Erklärung. Die Welt, an die man geglaubt habe, hieß es darin, habe aufgehört zu existieren und sei von den Ereignissen hinweggefegt worden."

Das Münchner Abkommen 1938 | Foto: Bundesarchiv,  Bild 183-R69173/Wikimedia Commons,  CC BY-SA 1.0
Für die Mitarbeiter begann damit der unsichere Weg in die weitere Emigration. Immerhin: die meisten von ihnen machten sich keine Illusionen über das weitere Schicksal des Landes und darüber, was sie unter den Nationalsozialisten erwarten würde. Sie haben sich noch rechtzeitig um ihre Ausreise gekümmert, berichtet Alice Horackova:

"Den meisten Redakteuren, soweit man die Schicksale weiter verfolgen kann, ist es wohl gelungen, sich zu retten - meist in die Emigration nach England oder in die USA. Eine Ausnahme ist der Theaterredakteur Emil Faktor, der die Flucht nicht mehr geschafft hat, nach Lodz deportiert wurde und 1942 im KZ umgekommen ist. Die meisten Redakteure hatten für ihre Zeit aber Glück - der letzte Chefredakteur ist etwa nach Großbritannien geflohen, wo er dann Propaganda gemacht hat."

Zweieinhalb Jahre hat sich die junge Medienwissenschaftlerin Alice Horackova nun im Rahmen ihrer Diplomarbeit mit der Geschichte des "Prager Mittags" befasst. Daneben arbeitet sie selbst als Zeitungsjournalistin. Die historischen Forschungen bilden gewissermaßen das Spiegelstück zu dem hektischen Wechsel der täglichen Redaktionsarbeit:

"Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man in den alten Akten blättert, wenn dann auf einmal Fotos oder alte Pässe herausfallen und man sich so immer mehr dem Schicksal eines Menschen annähert. Mir hat das den Impuls gegeben, noch weiter über diese Menschen zu forschen und zu versuchen, Zeitzeugen oder Verwandte ausfindig zu machen. Mal sehen, ob das gelingt."