Die elektronische Reißverschlussschlange

Elektronische Reißverschlussschlangen gibt es in Prag ziemlich viele, und es werden immer mehr. Im Prinzip sind sie gerecht und gutartig. Und sie erleichtern das Alltagsleben - vor allem denen, die nicht mehr so gut zu Fuß sind.

Hans-Jörg Schmidt, der dienstälteste unter den deutschen Prag-Korrespondenten, hat in seinem Buch "Tschechien. Eine Nachbarschaftskunde für Deutsche" ein paar Zeilen den Prager Schlangen gewidmet. Besonders den Schlangen am so genannten Inkasso-Tag, wo viele Tschechen das Geld für die Nebenkosten der Wohnung einzahlen:

"Die Schlangen vor den Postschaltern - häufig genug sind nur einer oder zwei für diese Einzahlungen zuständig, während sich die Fräuleins hinter den anderen Schaltern die Fingernägel feilen und Kaffee trinken - sind so enorm lang, dass selbst gelernte DDR-Bürger daran verzweifeln würden."

Ich kann Hans-Jörg Schmidt nur Recht geben. Auch ich als gelernter Wiener würde verzweifeln, müsste ich in so einer Schlange warten. Der Gleichmut, den die meisten Tschechen dem Schlangestehen entgegenbringen, ist hingegen offenbar unbegrenzt. Für einige scheint die Warteschlange sogar eine soziale Funktion zu erfüllen. Ein letztes Refugium des Hausfrauentratsches im Zeitalter der globalen Kommunikation.

Eine Beobachtung möchte ich jedoch hinzufügen: Noch nie habe ich in Prag die Frage "Wo warten Sie?" gehört. Ich kenne diese Frage aus Wien. Sie wird dort gerne dann gestellt, wenn man nicht eindeutig hinter dem linken oder dem rechten Schalter wartet, sondern irgendwo in der Mitte, um auf diese Weise eine Schlange nach dem weitaus gerechteren Reißverschlussprinzip zu eröffnen. Auf die Frage, wo ich warte, sage ich gerne: "Natürlich dort, wo ich früher an die Reihe komme." Denn warum sollte man das Spiel langsame Schlange gegen schnelle Schlange spielen, wo doch ohnehin alle Menschen von sich behaupten, immer in der langsameren zu stehen? Meist aber ist mein Ansinnen vergeblich, die Schlange teilt sich hinter mir ja doch.

Im Gegensatz zu Wien funktionieren in Prag Reißverschlussschlangen recht häufig. Wer zuerst kommt, malt zuerst, ganz ohne die schicksalsschwere Debatte über die richtige Schlangenwahl. Vielleicht gibt es deshalb in den meisten Prager Bankfilialen, auch in den kleinsten, längst ein ausgeklügeltes Nummernsystem, das es erlaubt, in bequemen Stühlen zu warten, bis man von der Digitalanzeige aufgerufen wird. Eine elektronische Reißverschlussschlange also. Tolle Sache. Und tratschen lässt sich's auch im Sitzen vortrefflich.


Buchtipp:

Hans-Jörg Schmidt: Tschechien. Eine Nachbarschaftskunde für Deutsche (Berlin: Ch. Links Verlag, 2006)