Die Deportation und Ermordung der Juden in den böhmischen Ländern

KZ Theresienstadt

Im Oktober und November 1941 begann in den von den Deutschen besetzten böhmischen Ländern, im so genannten "Protektorat Böhmen und Mähren", die systematische Deportation der jüdischen Bevölkerung. Die ersten Transporte führten von Prag nach Lodz und anschließend ins KZ Theresienstadt. Für unser heutiges Geschichtskapitel sprach Andreas Wiedemann mit dem Historiker und Mitarbeiter des "Instituts Theresienstädter Initiative", Michal Frankl, über das Schicksal der Juden in den böhmischen Ländern während des Zweiten Weltkriegs.

Kaiser Joseph II. gründete im 18. Jahrhundert Theresienstadt als eine Festungsanlage, die aus zwei Teilen bestand: Aus einer Garnisonsstadt und der so genannten Kleinen Festung. Beide erlangten im Zweiten Weltkrieg traurige Berühmtheit. Die deutschen Besatzer richteten in der Kleinen Festung ein Gestapogefängnis ein und machten aus der Stadt ein Ghetto für die jüdische Bevölkerung. Vor 65 Jahren, im November 1941, rollten die ersten Transporte nach Theresienstadt. Das waren aber nicht die ersten Deportationen von Juden im damaligen Protektorat, wie der Historiker Michael Frankl erläutert:

"Die große Welle der Deportationen aus den böhmischen Ländern begann im Oktober 1941 und zwar mit fünf Transporten aus Prag nach Lodz. Dort hatten die Deutschen ein großes Ghetto errichtet, zunächst nur für die jüdische Bevölkerung von Lodz und Umgebung. Dann schickte man aber auch Transporte aus Deutschland und den böhmischen Ländern dorthin. Am 24. November 1941 fand der erste Transport junger Männer, das so genannte Aufbaukommando, nach Theresienstadt statt. Diese Gruppe hatte die Aufgabe, das Ghetto für die große Welle von Transporten vorzubereiten, die man schon geplant hatte."

Michal Frankl  (Foto: Martina Schneibergova)
Welche Funktion hatte denn das KZ Theresienstadt?

"Theresienstadt wurde ursprünglich als ein Sammellager für die böhmischen und mährischen Juden errichtet und erst später kamen die anderen Funktionen dazu. Die zweite Funktion war, dass Theresienstadt als Altersghetto für ältere Juden aus Deutschland und Österreich diente. Für Menschen, die über 60 bzw. 65 Jahre alt waren. Die dritte Funktion war eine propagandistische", so Frankl.

Die Propagandarolle erfüllte Theresienstadt im Jahr 1944 als einer Delegation des Internationalen Roten Kreuzes das Ghetto nach intensiver Vorbereitung als ein angenehmer Lebensort für die Juden präsentiert wurde. Die Geschäfte wurden mit Waren gefüllt und kulturelles Leben präsentiert. Die Rechnung ging offenbar auf und der Hauptdelegierte des Roten Kreuzes berichtete anschließend über die gute Lage in Theresienstadt. Das "verschönerte" Ghetto hielten die Nazis in einem Film fest. Dieser Film, von dem nur Teile erhalten geblieben sind, wurde unter dem nicht offiziellen Titel "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" bekannt und war für Propagandazwecke gedacht. Dazu Michael Frankl:

"Man hat diesen Film nach dem Besuch der Delegation gedreht, ihn aber nie öffentlich gezeigt. Es gab insgesamt sogar zwei solche Filme. Man hat diese aber nie verwendet. 1944, nachdem der Film fertig aufgenommen war, hat man eine große Welle von Transporten in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gestartet. Mit diesen Transporten brachte man alle wehrfähigen Menschen aus Theresienstadt in die Gaskammern von Auschwitz. Das waren eben die Menschen, die für den Besuch des Roten Kreuzes bzw. für den Erfolg des Besuches wichtig waren", sagt Frankl.

Die realen Verhältnisse im total überfüllten Ghetto Theresienstadt waren katastrophal. Im Herbst 1942 starben dort im Durchschnitt 150 Menschen am Tag. Ungefähr 140.000 Menschen wurden zwischen 1941 und Kriegsende nach Theresienstadt gebracht. Für die meisten war das Ghetto aber nur eine Durchgangsstation, sie wurden weiter nach Osten deportiert, von wo sie nicht zurückkehrten.

"In Theresienstadt starben insgesamt über 30.000 Menschen. Die meisten Theresienstädter Häftlinge wurden aber im Osten ermordet, also in Auschwitz und Treblinka. Insgesamt wurden fast 90.000 Häftlinge nach Osten geschickt. Man weiß nicht genau, wie viele überlebt haben. Es waren etwas über 4.000 vielleicht 5.000, mehr sicher nicht."

In der Literatur findet man die Geschichte, dass nach dem Attentat auf Heydrich und dessen Tod im Juni 1942 ein Transport mit Juden gewissermaßen als Racheaktion direkt auf den Weg in die Vernichtungslager geschickt wurde.

"Das ist eine Legende, aber eine sehr interessante. Wahr ist, dass einer der Judentransporte nach dem Tod von Heydrich nicht nach Theresienstadt geschickt wurde, sondern in die Region von Lublin. Von diesem Transport von 1000 Menschen überlebte eine oder zwei Personen. Die Abkürzung von diesem Transport war AAH. Man hat sehr oft behauptet, dass diese Abkürzung Attentat auf Heydrich bedeutet. Man kann aber sehr leicht beweisen, dass die Zuordnung der Abkürzungen alphabetisch erfolgte und dass das nur eine Erfindung der Phantasie ist", sagt Frankl.

Eine Besonderheit, die ebenfalls mit Theresienstadt verbunden ist, war das so genannte Familienlager im KZ Auschwitz-Birkenau. Insgesamt wurden in diesem Teil des KZ über 17.000 Menschen aus Theresienstadt gebracht. Sie genossen in dem grauenhaften Kontext von Auschwitz gewisse Privilegien, wie Frankl erklärt:

"Die Privilegien in Auschwitz-Birkenau bedeuteten, dass man die Familien nicht getrennt hat, daher kommt auch der Begriff Familienlager und dass die Häftlinge nach ihrer Ankunft durch keine Selektion durchliefen, d.h. niemand wurde am Anfang in den Gaskammern ermordet.".

Warum diese Ausnahmen gemacht wurden ist unklar. Wahrscheinlich gab es einen Zusammenhang mit der propagandistischen Funktion von Theresienstadt. Michal Frankl vermutet, dass ein Teil der Theresienstädter Juden auch im Osten am Leben erhalten werden sollten, um sie eventuell dem Roten Kreuz vorführen zu können. Ein halbes Jahr nach der Ankunft im Familienlager wurde aber die erste Gruppe von 5.000 Theresienstädter Häftlingen in Auschwitz vergast. Dazu Michal Frankl:

"Es handelt sich eigentlich um die größte Einzelmordaktion an den tschechoslowakischen Staatsbürgern während des Zweiten Weltkriegs. Den Rest des Lagers hat man dann im Juli 1944 liquidiert, wobei man einen Teil der Häftlinge zur Arbeit ausgesondert hat, der Rest wurde in den Gaskammern ermordet. Diese beiden Mordaktionen waren bestimmt die beiden größten Massentötungen an tschechoslowakischen Staatsbürgern während des Zweiten Weltkrieges."

Die Geschichte des Familienlagers ist heute in der tschechischen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist. Während Lidice zu einem Symbol für den Naziterror wurde, wird das Familienlager oft nur am Rande erwähnt. Michal Frankl sagt, dass dies im Zusammenhang steht mit dem generellen Umgang in der tschechischen Geschichtsschreibung mit der Judenvernichtung in den böhmischen Ländern:

"Traditionell hat man die Verfolgung der Juden nur dann erwähnt, wenn sie im Zusammenhang mit der Verfolgung der Tschechen stand, oder wenn man einen solchen Zusammenhang konstruieren konnte."

Gibt es also bis heute eine unterschiedliche Wahrnehmung des Schicksals der jüdischen und nicht jüdischen tschechoslowakischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg? Kann man von unterschiedlichen Erinnerungskulturen sprechen?

"Ich denke, dass diese Wahrnehmung heute nicht mehr so getrennt ist wie früher. Aber in der kommunistischen Zeit war das sicherlich noch so", sagt Frankl.

In der Kleinen Festung Theresienstadt, im ehemaligen Gestapo-Gefängnis, befindet sich heute eine Gedenkstätte. In der Stadt selbst erinnern zahlreiche Gedenktafeln und Gedenkorte an die Vergangenheit von Theresienstadt.