Schielen über die Grenze: Parallelwahlkämpfe in Tschechien und der Slowakei

Slowakischer Außenminister Eduard Kukan mit seinem tschechischen Gegenüber Cyril Svoboda (Foto: CTK)

Mitten im zusammenwachsenden Europa entstand am 1. Januar 1993 eine neue Grenze - nämlich die zwischen Tschechien und der Slowakei. Die 1918 gegründete Tschechoslowakische Republik hatte sich friedlich geteilt. Neben der gemeinsamen Geschichte und den sehr ähnlichen Sprachen haben beide Staaten derzeit noch eine Gemeinsamkeit: Hüben und drüben herrscht Wahlkampf. In Tschechien wird am 2. und 3. Juni ein neues Abgeordnetenhaus gewählt, in der Slowakei zwei Wochen später. Ob und wie die Wahlauseinandersetzungen in den beiden Ländern einander beeinflussen, darüber hat Gerald Schubert mit unserem Mitarbeiter und Außenpolitikexperten Robert Schuster gesprochen.

Slowakischer Außenminister Eduard Kukan mit seinem tschechischen Gegenüber Cyril Svoboda  (Foto: CTK)
Die meisten unserer Hörerinnen und Hörer kennen Robert Schuster als freien Mitarbeiter von Radio Prag. Er ist aber auch Politikwissenschaftler am "Institut für internationale Beziehungen", und in dieser Eigenschaft ist er heute bei uns im Studio zu Gast.

Robert, man kann glaube ich beobachten, dass die Wahlkämpfe in Tschechien und der Slowakei schon gewisse Auswirkungen aufeinander haben. Zum Beispiel war kürzlich der slowakische Außenminister Eduard Kukan in Prag. Er hat diesen Besuch quasi im letzten Moment von der Ebene eines offiziellen Besuches auf die Ebene eines Arbeitsbesuches heruntergestuft, damit er sich nur mit seinem tschechischen Gegenüber treffen muss, aber nicht mit dem sozialdemokratischen Premierminister Jiri Paroubek. In der Slowakei gibt es ja eine rechtsliberale Regierung, in Tschechien eine sozialdemokratisch geführte. Sind das Dinge, die letztlich nur ein paar Journalisten und Diplomaten interessieren, oder haben diese beiden Wahlkämpfe wirklich Einfluss aufeinander?

Tschechischer Premierminister Jiri Paroubek  (rechts),  Foto: CTK
"Aufgrund der zeitlichen Nähe - es liegen ja zwischen den tschechischen und den slowakischen Wahlen nur 14 Tage - gibt es da schon gewisse Beeinflussungen. Die konservative Oppositionspartei in Tschechien, also die Demokratische Bürgerpartei, hat die Slowakei als Vorbild dargestellt. Als ein Land, dem es gelungen ist, innerhalb von vier Jahren, also einer Legislaturperiode, das Steuersystem grundlegend zu ändern, neue Investoren anzulocken und auch das Sozialsystem auf eine neue Grundlage zu stellen. Die regierenden Sozialdemokraten in Tschechen haben diesen slowakischen Weg wiederum kritisiert, und sie warnen davor, dass Tschechien auf eine ähnliche Linie einschwenken könnte. Diese Wortgefechte, die zunächst von Tschechien ausgegangen sind und erst nach einiger Zeit von slowakischen Politikern aufgegriffen wurden, haben natürlich zu einer gewissen atmosphärischen Beeinflussung und auch zu einer Verknüpfung der beiden Wahlkämpfe geführt."

Inwiefern wurden denn diese Wortgefechte von der Slowakei aufgegriffen? Kann man auch dort beobachten, dass die konservative Regierung Tschechien kritisiert, bzw. dass die linke Opposition Tschechien den Wählern gegenüber in einem besonders positiven Licht darstellt?

Slowakischer Außenminister Eduard Kukan,  Kulturminister Rudolf Chmel und Finanzminister Ivan Miklos  (Foto: CTK)
"Für die Slowaken - und zwar nicht nur für die gewöhnlichen Bürgerinnen und Bürger, sondern vor allem auch für die slowakische politische Elite - müssen Tschechien und die Tschechen immer noch als eine sehr wichtige Referenzgröße herhalten. Selbst mehr als zehn Jahre nach der Auflösung der Tschechoslowakei schielen die Slowaken immer noch nach Tschechien hinüber und sehen in den Tschechen ein gewisses Vorbild. In der Politik, in der Kultur und auch in der Wirtschaft. Wenn es den Slowaken jetzt wirtschaftlich gut geht, dann haben sie bereits seit einigen Jahren zum ersten Mal das Gefühl, aus dem Schatten des großen tschechischen Bruders herausgetreten zu sein. Das ist sicherlich das Verdienst der jetzigen slowakischen Regierung, die damit auch punkten kann. Im Wahlkampf kommt hier ein nationalpopulistischer Zug zum Tragen. Solche Dinge spielen also schon eine Rolle."

Aber vor wenigen Tagen wurde in Tschechien die neue Arbeitslosenstatistik veröffentlicht. 8,3 Prozent sind hierzulande offiziell als arbeitslos registriert. In der Slowakei ist diese Zahl viel höher, zuletzt war die Arbeitslosigkeit dort die zweithöchste in der gesamten Europäischen Union. Und auch das Wirtschaftswachstum in Tschechien ist nicht schlecht. Hier liegt Tschechien mit der Slowakei ungefähr gleichauf. Dies alles betont wiederum die sozialdemokratische Regierung in Prag, wenn sie ihrerseits die Slowakei kritisiert. Aber ganz allgemein: Sind solche Vergleiche eigentlich fair? Oder sind die wirtschaftliche Basis oder die Zusammensetzung der Gesellschaft in den beiden Ländern so unterschiedlich, dass man die Entwicklungen eigentlich gar nicht so sehr von der jeweils regierenden Partei abhängig machen kann?

"Die Unterschiede zwischen den beiden Gesellschaften sind weitaus größer, als man vielleicht meinen könnte. Möglicherweise gibt es bei manchen immer noch die Vorstellung, dass die beiden Länder ja früher einen gemeinsamen Staat gebildet haben und deshalb das Lebensniveau und diverse Standards in Tschechien und in der Slowakei gleich sein müssen. Aber das ist nicht so. Im Gegenteil: Schon vor 1989, also zur Zeit des Kommunismus, gab es riesige Unterschiede in der wirtschaftlichen Struktur und in der gesellschaftlichen Zusammensetzung. Und diese Unterschiede kann man auch nicht in mehr als zehn Jahren beheben."

Kann man das verkürzt so zusammenfassen, dass die Tschechische Republik immer eher ein Industrieland war, während der slowakische Teil eher eine Agrarkultur hat?

"Die Slowakei ist sicher immer noch sehr stark agrarisch geprägt, obwohl natürlich die Kommunisten auch dort die Industrialisierung forciert haben. Dabei handelte es sich jedoch um Schwerindustrie, zum Beispiel um die Herstellung von Panzern. Also um eine Industrie, die nicht zukunftsweisend war. Nach 1989, also nach dem Ende des Kalten Krieges, wurden diese Fabriken zugesperrt und die Leute entlassen. Die Arbeitslosigkeit lag in den neunziger Jahren in der Slowakei oberhalb der 20-Prozent-Grenze. Wenn sie heute wesentlich unter dieser Grenze liegt, dann kann man das schon als einen Erfolg der Regierung bezeichnen. Als Erfolg der Bemühungen in den letzten vier oder fünf Jahren, die Slowakei wirtschaftlich auf Vordermann zu bringen."

Andererseits gibt es aber eine Eurostat-Untersuchung, der zufolge die Armutsgefährdung in der Slowakei weitaus höher ist als in der Tschechischen Republik. Die tschechische Regierung weist auch immer darauf hin, dass der soziale Friede hier im Land sehr groß ist.

"Das ist vor allem dadurch bedingt, dass die Unterschiede zwischen den einzelnen Landesteilen in der Slowakei weitaus ausgeprägter sind als in Tschechien. In der Slowakei ist der wirtschaftliche Wohlstand, den man seit einigen Jahren verzeichnen kann, im westlichen Landesteil konzentriert, vor allem im Großraum Bratislava - Wien. Der ärmere Osten hingegen, also der Grenzraum zur Ukraine, hat von diesen Entwicklungen bislang sehr wenig profitiert. Dort gibt es immer noch Arbeitslosenraten oberhalb der 25 Prozent. Der Wohlstand ist also noch nicht gleichmäßig verteilt. Ich würde aber vielleicht beide Wahlkämpfe, also in Tschechien und in der Slowakei, als Wohlstandswahlkämpfe bezeichnen. Die Parteien streiten eigentlich nicht um grundsätzliche Richtungen, sondern darum, wie man den Wohlstand besser oder gerechter verteilen kann."

Hältst du es für möglich, dass der Wahlausgang in der Tschechischen Republik irgendwelche Auswirkungen auf die Stimmung im slowakischen Nachbarland hat?

"Das ist schwer zu beurteilen. Denn einerseits gilt, was ich bereits gesagt habe: Nämlich, dass Tschechien für die Slowaken immer noch ein sehr wichtiges Referenzland darstellt, und dass Tendenzen und Entwicklungen in Tschechien oft von der Slowakei aufgegriffen werden. Andererseits wage ich zu bezweifeln, dass das so weit gehen könnte, dass die slowakischen Wählerinnen und Wähler sich sagen: Wir wählen genauso wie die Tschechen. Ich glaube, die beiden Staaten haben sich in diesem Sinne schon voneinander entfernt. Die Beziehungen haben sich derart normalisiert, dass solche Rückschlüsse eigentlich nicht mehr anzunehmen sind."