In diesen Tagen sind genau 100 Jahre seit der Verabschiedung des so genannten "Mährischen Ausgleichs" vergangen, der einen beachtenswerten, wenn auch nur kurzlebigen Versuch um eine gerechte nationale Regelung zwischen Tschechen und Deutschen im Wahl- und Schulbereich darstellte. Der deutsche Historiker Rudolf Grulich hat aus diesem Anlass am Donnerstag in Prag einen Vortrag gehalten, in dem er nicht nur auf das historische Ereignis von 1905, sondern auch auf weitere Umsetzungsversuche und die Bedeutung des "Mährischen Ausgleichs" für das gegenwärtige Europa einging. Martina Schneibergova fragte Professor Grulich nach den Voraussetzungen, die 1905 in Mähren für die Durchsetzung des Ausgleichs geschaffen wurden.
Rudolf Grulich (Foto: Autorin)
"Man hat ja eigentlich seit dem Ungarischen Ausgleich von 1867 in allen Kronländern der österreichischen Krone versucht, das nationale Zusammenleben einigermaßen zu regeln, und es ist interessant, dass es nur in Mähren nach neun Jahre langem Ringen, nach langen Diskussionen seit 1896 gelungen ist, im Landtag durch vier Landesgesetze eine Grundlage zu schaffen, die dann später ´Mährischer Ausgleich´ genannt wurde und die dann bis zum Ersten Weltkrieg das Zusammenleben einigermaßen geregelt hat. Die Voraussetzung dafür war, dass die Bereitschaft auf beiden Seiten zu einer Versöhnung, zu einem Ausgleich da war. Man hat, wie ich sagte, vier neue Gesetze geschaffen, man hat die Zahl der Abgeordneten im Landtag von 100 auf 150 erhöht, man hat eine neue Landtagswahlordnung geschaffen, sodass nicht nur der Großbesitzer oder die Städte überrepräsentiert waren, und man hat ein Schulgesetz geschaffen. Das hat beiden Völkern kulturelle Autonomie in der Schule gegeben. Und man hat noch durch ein Gesetz Voraussetzungen geschaffen, wie die Gemeinde vorgehen muss, um in der Gemeinde und auch im Landkreis die Ein- oder Zweisprachigkeit zu regeln. Und das ganze ist nicht so sehr auf der Ebene des Territoriums als der Territorialautonomie erfolgt, sondern der Personalautonomie. In den gemischten Gebieten schuf man nationale Kataster - nationale Wahlkreise, sodass also aus dem allgemeinen Wahlkampf der Volkstumskampf herausgenommen war."
Rudolf Grulich (Foto: Autorin)
Die Zeit zwischen 1905 und 1914 war jedoch sehr kurz. Gab es dann bestimmte Umsetzungsversuche beziehungsweise Ähnlichkeiten anderer Regelungen mit dem ´Mährischen Ausgleich´?
"Ja, es ist tatsächlich so, dass die neun Jahre bis zum Ausbruch des Krieges zu kurz waren, um eine endgültige Beurteilung der Lage zu geben. Aber die Tatsache, dass andere Kronländer Österreich-Ungarns etwas Ähnliches versucht haben, zeigt doch, dass man aufhorchte und eine Lösung sah. In der Bukowina kam es 1910 tatsächlich zu einem Ausgleich. Man hat einen Ausgleich in Galizien geschaffen, der aber diesen Namen nicht verdient hat, weil dort weder Polen, noch Ruthenen aufeinander zugegangen sind. Auch der Ausgleich in Bosnien verdient diesen Namen nicht, wobei immer wieder gesagt werden muss: Ohne den Weltkrieg hätte man vielleicht durch Nachverhandlungen manches besser machen können."