"Geschichten des Unrechts" - Opfer des Kommunismus gehen an die Schulen
Es ist ein beliebtes Thema der Medien, und Umfragen bestätigen es immer wieder: Die tschechischen Jugendlichen wissen kaum etwas über die kommunistische Diktatur in ihrem Lande und die Zeit vor 1989. Nicht selten ist das der Ausgangspunkt für die Schelte an der angeblich desinteressierten und ignoranten Jugend. Ein zweiter Blick zeigt allerdings: Die jüngere Geschichte wird an den Schulen praktisch nicht thematisiert. Zum 16. Jahrestag der Samtenen Revolution will die Aktion "Pribehy bezpravi / Geschichten des Unrechts" das ändern. Durch Dokumentarfilme und Zeitzeugengespräche sollen Schüler mehr über die Geschichten des Unrechts in ihrem Land erfahren, über das Schicksal der politisch Verfolgten in der kommunistischen Tschechoslowakei. Thomas Kirschner sprach mit Organisatoren und Beteiligten.
In den Jahren 1948 bis 1989 wurden 241 politische Häftlinge hingerichtet, etwa 8000 starben bei der Zwangsarbeit in Steinbrüchen und Bergwerken, rund 600 haben die Verhöre des Geheimdienstes nicht überlebt und mehr 250.000 Bürger wurden zu Unrecht zu langen Haftstrafen verurteilt - das Antlitz des tschechoslowakischen Kommunismus in Zahlen. Die Fakten sind bekannt, eine Aufarbeitung findet in Tschechien jedoch nur in Ansätzen statt. Das schlägt sich auch an den Schulen nieder, meint Karel Strachota, Leiter des Projektes "Geschichten des Unrechts":
"Die moderne Geschichte der Tschechoslowakei, und vor allem die Nachkriegszeit, also die Zeit des Kommunismus, wird an den meisten Schulen praktisch nicht unterrichtet. Man darf sich also nicht wundern und kann das den jungen Schülern auch nicht vorhalten, dass sie über die Zeit kaum etwas wissen. Das ist ganz entschieden nicht ihr Fehler, der Fehler liegt hier im System."
Die Aktion "Geschichten des Unrechts" will diesem Systemfehler entgegentreten. Zum 16. Jahrestag der Samtenen Revolution hat die Organisation "Clovek v tisni / Mensch in Not" den November zum Monat des Dokumentarfilmes an den tschechischen Grund- und Mittelschulen ausgerufen. Im Fokus der Filmauswahl stehen die kommunistischen Verbrechen der 50er Jahre, so Strachota:"Die Schulen können einen der sieben Filme auswählen, die wir für sie vorbereitet haben, und unmittelbar nach der Filmvorführung gibt es dann eine Diskussion mit einem Zeitzeugen, einem Opfer des kommunistischen Unrechts. Das sind zum Beispiel ehemalige politische Gefangene, manchmal auch Kinder von solchen Verfolgten."
330 Schulen in ganz Tschechien beteiligen sich an der Aktion. Die Kombination aus anschaulicher Dokumentation und persönlicher Begegnung sei die beste Weise, um junge Menschen direkt zu erreichen, meint Projektleiter Karel Strachota.
"Der Dokumentarfilm ist, und unsere bisherigen Erfahrungen bestätigen das voll und ganz, ein ausgezeichnetes Medium, um bei den Schülern Interesse zu wecken. Wir haben Filme ausgewählt, die konkrete Einzelschicksale von politisch Verfolgten vorstellen. Zusammen mit dem anschließenden Gespräch mit den Zeitzeugen, die einen ganz ähnlichen Lebenslauf haben, ist das wirklich ein gutes Mittel, an die Jugendlichen heranzutreten. Die beginnen dann Fragen zu stellen und die Zusammenhänge zu suchen, und dann geht es um Haltungen und den Widerstand gegen die Lüge."
Einer der angebotenen Filme ist "Vez smrti / Der Todesturm". Die Regisseurin Kristina Vlachova thematisiert darin auch den mangelnden Willen zur Aufarbeitung der kommunistischen Verbrechen nach der Wende. Der Film erzählt die Geschichte von Jaroslav Lukes, der 1949 für versuchten Grenzübertritt und Kriegsdienstverweigerung zu 14 Jahren Haft verurteilt worden war und als Zwangsarbeiter in die Urangruben von Jachymov kam. Nach zwei Jahren wagte Lukes einen Fluchtversuch, erzählt die Regisseurin Vlachova. Dabei wurde er jedoch von einem Aufseher gestellt."Er hat Lukes mit einem Lungenschuss niedergestreckt, und als der schon wehrlos und fast tot auf dem Boden lag, hat der Aufseher ihm aus nächster Nähe noch in den Kopf geschossen. Das war auch damals verboten, und Lukes hat nur durch ein Wunder überlebt. Nach der Wende gab es einen Prozess gegen den Aufseher, allerdings wurde er wegen Amtsmissbrauch angeklagt und nicht wegen Mordversuch, der nicht verjährt. Der Prozess dauerte viele Jahre, und am Ende entschied das Gericht, dass die Tat verjährt ist. Jaroslav Lukes ist nach der Urteilsverkündung gestorben, und ich denke, er ist wirklich auch am Urteil gestorben."
Einer der Zeitzeugen, die sich bereit erklärt haben, Jugendlichen über das kommunistische Unrecht und die Zeit ihrer Verfolgung zu berichten, ist der Theologe Otto Madr. Für seine Beteiligung am katholischen Untergrund entging er Anfang der 50er Jahre nur knapp der Todesstrafe. Insgesamt 15 Jahre saß Madr danach in kommunistischen Gefängnissen - für den ungebrochenen Katholiken erwächst daraus die Verantwortung, seine Erfahrungen an junge Menschen weiterzugeben.
"Ich bin fast 89 Jahre alt und ich habe in meinem Leben das Unterschiedlichste durchgemacht. Daher fühle ich mich verpflichtet, Zeugschaft abzulegen, denn für die Jugend ist das schon ein vergangenes Jahrhundert, eine vergangene Epoche - so wie für uns der Erste Weltkrieg und Österreich-Ungarn. Nur dass die Geschichte weiterlebt, manchmal mehr, manchmal weniger, und aus der Vergangenheit erwächst die Gegenwart und Zukunft. In diesem Sinne fühle ich mich verpflichtet, auch etwas beizutragen, wenn es die Gelegenheit gibt, und ich dazu eingeladen bin."
Die Bedeutung der Erinnerung unterstreicht auch Jiri Stransky. Der prominente Schriftsteller, Filmemacher und Präsident des tschechischen PEN-Klubs saß in den 50er Jahren selbst aus politischen Gründen in Haft. Heute ist er einer der unermüdlichen Kämpfer gegen die blinden Flecken im historischen Gedächtnis der Nation. Warum beteiligt er sich als Zeitzeuge an dem Projekt?
"Da ist nur eine Sache: Dass die jüngste Generation erfährt, was geschehen ist. Das ist alles! Denn wir sind keine Nation, die es sich leisten kann, etwas zu vergessen. Gleich entsteht dann die Gefahr, dass es wiederkommen könnte!"
In ihrem Kampf gegen das Vergessen fühlen sich die Opfer der kommunistischen Verfolgungen wie auch die Organisatoren der Aktion "Geschichten des Unrechts" von Regierungsseite oft allein gelassen. Auf die öffentlichen Stellen ist PEN-Klub-Präsident Jiri Stransky in dieser Sache nicht gut zu sprechen:
"In dieser Zeit ist es ein Unsinn, vom Ministerium etwas zu erwarten. Sie müssen das machen, was sie allein machen können - das ist das Beste, und das ist das, was wir tun."
Vom Schulministerium kam in der Tat keinerlei Unterstützung für das Dokumentarfilmprojekt - obwohl man sich mehrfach um Kontakt bemüht hat, wie Jiri Stransky betont:
"Sie wollen davon nichts wissen! Wir haben es vielmals versucht, aber am Ministerium hieß es: Das geht nicht so einfach, hier ist eine Systematik nötig, aber ihr Projekt ist unsystematisch, und ähnliches mehr. Wenn man etwas nicht machen will, findet man immer eine Ausrede."
Eine Ausrede, das zeigt das Projekt deutlich, ist auch die viel zitierte Gleichgültigkeit der Schüler. Auf sie ist noch keiner der Beteiligten gestoßen. Im Gegenteil: das Interesse ist groß. Das zeigen auch die Reaktionen von Prager Schülern auf den einführenden Film über die Schicksale politischer Häftlinge in der Tschechoslowakei in den 50er Jahren.
"Mir hat diese Filmvorführung gefallen - die Hintergründe der Schauprozesse, der Schrecken, der davon ausging. Davon habe ich schon etwas gewusst, aber durch den Film kann ich das auch wirklich nachfühlen. Nach dem Film kann man sich besser ein Bild von der Zeit machen."
"Die Leute haben sich schrecklich verhalten - zum Beispiel der Schauprozess gegen Milada Horakova. Ihre Ansichten sind für mich völlig normal, und sie haben sie dafür zum Tode verurteilt - das ist verrückt!"
"Ich fühle Schrecken und Entsetzen gegenüber dem, was war - und auch darüber, dass weder ich noch die meisten meiner Mitschüler davon viel wissen. Das sind abstoßende Dinge, und es ist wichtig, dass es so ein Projekt gibt!"