Schrieben die frühen Slawen in germanischen Runen?

Germanische Runen auf dem Rinderknochen

Zu der Schriftlichkeit der Slawen bestehen viele Fragen. Als gesichert galt bisher nur, dass im 9. Jahrhundert das erste eigene Alphabet entstand. Doch ungeklärt war, ob slawische Stämme nicht auch schon früher schreiben konnten. Nun ist ein internationales Team von Archäologen zu bahnbrechenden Erkenntnissen gelangt. Demnach könnten germanische Runen eine Rolle bei der Alphabetisierung der frühen Slawen gespielt haben.

Jiří Macháček | Foto: Archiv der Masaryk-Universität in Brno

Ein kleines Stück Knochen ist gerade dabei, die Geschichte umzuschreiben. Es ist so lang, wie eine Hand breit ist. Und es enthält eine Botschaft, wenn auch schwer leserlich. Gefunden wurde das Stück nahe Břeclav / Lundenburg in Südmähren an einem Ort, der als frühslawisches Siedlungsgebiet gilt. Schon 2017 stießen Wissenschaftler bei Grabungsarbeiten auf den Knochen. Archäologen aus Tschechien, Österreich, der Schweiz und Australien nahmen ihn dann genauer in Augenschein. Zu dem Team gehört auch Jiří Macháček, der Leiter des Instituts für Archäologie und Museologie an der Masaryk-Universität in Brno / Brünn:

„Es handelt sich um ein Stück aus der Rippe eines Rindes. Darauf ist ein Text eingeritzt. Als wir die Zeichen genauer untersuchten, fanden wir heraus, dass es sich um altgermanische Runen des sogenannten älteren Futharks handelt. Das ist ein Alphabet, das die germanisch sprechende Bevölkerung in Mitteleuropa vom 2. bis 7. Jahrhundert nach Christus genutzt hat. Das Überraschende daran war, dass dieses Schriftstück in einer frühslawischen Siedlung gefunden wurde.“

Ein Stück Rippe vom Rind

Glagoliza | Foto: Neoneo 13,  Wikimedia Commons,  public domain

Als slawische Urschrift gilt bisher die sogenannte Glagoliza. Sie wurde allerdings erst 863 erfunden, und zwar vom Slawenapostel Kyrill von Saloniki. Im Rahmen seiner missionarischen Tätigkeit an der Seite von Method schuf er ein eigenes Alphabet. Dies beruhte auf griechischen Kleinbuchstaben, genauso wie auf kaukasischen und semitischen Schriftsystemen.

Natürlich spekulierten einige Forscher schon früher darüber, ob die Slawen nicht vielleicht davor bereits eine Art Schriftlichkeit besaßen. Beweise gab es dafür aber nicht. Ist es nun also dieser Rinderknochen? Eine schwierige Frage, denn erst einmal müsse man sich klarmachen, dass dort kein durchgehender Text eingeritzt sei, sagt Macháček:

Futhark auf dem Knochen  | Foto: Archiv der Masaryk-Universität in Brno

„Die Runen bilden keine konkreten Worte, sondern sind wie ein Alphabet angeordnet. Es sind aber andere Buchstaben als in unserem Alphabet. Wir Wissenschaftler nennen sie Futhark, weil die Zeichenreihe mit F – U – TH – A – R – K beginnt. Und auf dem Bruchstück aus der Rippe haben wir den hinteren Teil des Runen-Alphabets entdeckt.“

Die Forscher ziehen daher zwei Möglichkeiten in Betracht, was die Zeichen bedeuten könnten…

Runenreihe  (Foto: Anders Mejlvang,  Pixabay / CC0)

„Runenreihen sind oft auf Steindenkmalen zu finden, weil jedem Zeichen im germanischen Glauben magische Mächte zugeordnet waren. Wenn die Runen richtig angeordnet waren, tat diese Magie angeblich ihre Wirkung. Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit, und die scheint uns wahrscheinlicher. Und zwar könnten die Runen als Lehrfibel oder Übungsreihe gedient haben für jemanden, der damit schreiben lernte. Dabei lässt sich nicht ausschließen, dass die frühen Slawen von den Germanen das Wissen der Runenschrift übernommen haben und selbst versuchten, in dieser zu schreiben“, so Macháček.

Kyrill und Method

Doch was heißt das? Haben diese wissbegierigen Frühslawen ihre eigene Sprache in Runenschrift übertragen oder schrieben sie in einem germanischen Idiom? Der Archäologe gesteht, dass es noch zu früh sei für eine Antwort auf diese Frage:

„Es handelt sich um eine erste Schwalbe. Das heißt, wir haben nachgewiesen, dass die frühen Slawen tatsächlich mit den germanischen Runen in Kontakt gekommen sind. Denn bisher galt, dass die erste von Slawen genutzte Schrift die Glagoliza war, die Kyrill und Method ins Großmährische Reich brachten, um den christlichen Glauben aus Byzanz hier zu verbreiten. Es gibt aber auch historische Berichte, nach denen die Slawen schon vorher Zeichen genutzt haben könnten.“

Schrift des Mönches Chrabr „Über die Buchstaben“  | Foto: Wikimedia Commons,  public domain

Jiří Macháček verweist dabei vor allem auf eine Schrift des Mönches Chrabr aus dem bulgarischen Preslaw. Sie nennt sich „O pismenech“, also „Über die Buchstaben“, und wurde zu Beginn des 10. Jahrhunderts verfasst. Schon früher löste sie Diskussionen aus über eine mögliche vorchristliche slawische Runenschrift. Denn dort heißt es:

„Früher, als die Slawen noch Heiden waren und keine Bücher hatten, lasen und wahrsagten sie mit Hilfe von Strichen und Schnitzen.“

Die Forscher konnten sich letztlich jedoch keinen Reim auf diese Worte machen…

„Manche dachten, dass damit eigene runenartige Buchstaben gemeint sein könnten. Diese Hypothese wurde aber wieder verworfen, weil nirgendwo bei den Slawen Runen gefunden wurden. Erst jetzt haben wir den Beweis, dass die frühen Slawen zwar keine eigenen Zeichen hatten, aber mit germanischen Runen in Kontakt gekommen sein könnten und eventuell auch mit ihnen geschrieben haben“, sagt der Experte.

Illustrationsfoto: Kenny lex,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0

Das aber könne nur durch weitere Forschungen oder besser noch: weitere Fundstücke bestätigt werden, fügt er an.

Hoffnung auf weitere Fundstücke

Allerdings war an der Schwelle zum frühen Mittelalter sicher nicht die breite Masse alphabetisiert. Auch bei den Germanen konnte nur eine kleine Schicht schreiben und lesen – die sogenannten Runenmeister. In Mitteleuropa schwand die Fertigkeit aber mit der voranschreitenden Christianisierung. Denn zu kirchlichen Zwecken wurde das lateinische Alphabet verwendet. Falls die Slawen ebenfalls mit Runen schrieben, muss auch dies mit der Verbreitung der glagolitischen Schrift sowie dem Vordringen des Lateins aus dem Westen an Bedeutung verloren haben.

„Weil wir bisher keine weiteren Nachweise gefunden haben, wissen wir nicht, wie stark die Kenntnis von Runen bei den Slawen verbreitet war. Das heißt, das Fundstück zeigt nur, dass sie deutlich früher als bisher angenommen in Kontakt mit Buchstaben gekommen sind. Weitere Forschungen müssen jetzt zeigen, ob die Schriftlichkeit bei den frühen Slawen nicht viel weiter verbreitet war, als wir jemals geglaubt hätten“, so Jiří Macháček.

Fundort des Knochens | Foto: Archiv der Masaryk-Universität in Brno

Der Fundort des Knochens ist im Übrigen bei den Forschern bekannt für eine der Siedlungen des Großmährischen Reiches. Sie lag am Zusammenfluss von March und Thaya. Doch auch schon sehr viel früher hatten sich dort Slawen niedergelassen. Dazu der Archäologe:

„Offensichtlich haben sich die dortigen Bewohner nach und nach unterschiedliches Wissen und bestimmte Fertigkeiten von den sie umgebenden Völkern angeeignet. So gelangten sie zu einer relativ hoch entwickelten Kultur. Und diese mündete in das Großmährische Reich, das dann bereits christianisiert war, mit seinen Kirchen und der herrlichen Schmuckfertigung. Vielleicht begann dieser Übernahmeprozess schon Ende des 6. oder Anfang des 7. Jahrhunderts, so dass die Frühslawen bereits lesen und schreiben konnten – wenn auch mit germanischen Runen.“

Germanische  (bunte Flächen) und Slawische  (Schraffen) Kultur in Europa  in den 6. und 7. Jahrhunderten  | Foto: Archiv der Masaryk-Universität in Brno

Wer von den beiden Seiten aber die Runen auf den Rinderknochen geritzt hat, das müsse bisher offenbleiben, gesteht Macháček:

„Es könnte ein Germane gewesen sein, der bei den Slawen lebte. Oder es war wirklich ein Slawe, der die Schrift dann von einem Germanen gelernt haben muss. In jedem Fall aber war der Kontakt wohl eng. Es ist nämlich nicht so, dass alle Germanen, die auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens lebten, mit der Ankunft der ersten Slawen weggezogen sind. Ebenso drangen nicht plötzlich Massen an Slawen hierher vor. Die Prozesse waren viel komplexer und liefen schrittweise ab.“

Um diese Prozesse weiter aufzuhellen, hofft Jiří Macháček nun auf weitere Funde. Dabei könnte es auch helfen, archivierte Stücke noch einmal zu überprüfen…

Alte Slawen  (Quelle: Wikimedia Commons,  CC0)

„Die Aufschrift auf dem Knochenstück ist nur ganz schwer zu erkennen. Man muss schon sehr genau hinschauen, um sie zu sehen. Vielleicht befinden sich ähnlich beschriftete Knochen bereits im Archiv oder im Museum. Das heißt, wir sollten uns solche Fundstücke noch einmal vornehmen. Zugleich muss man bei neuen Grabungen genauer hinschauen. Ich persönlich hoffe darauf, dass weitere Schriftstücke der frühen Slawen gefunden werden. Ob sich das bewahrheitet, zeigt aber erst die Zukunft“, sagt der Fachmann.

Autor: Till Janzer
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