600 Jahre alte Handschrift: die Bibel von Lipnice

Bibel von Lipnice

Die mittelalterliche Burg Lipnice steht nahe Havlíčkův Brod / Deutschbrod. Außer dem Baudenkmal können sich die Besucher dort seit einigen Tagen auch eine Ausstellung anschauen. Diese stellt eine wertvolle Handschrift vor, die vor 600 Jahren entstanden ist: die Bibel von Lipnice. Der Historiker Karel Pacovský hat sich mit dem Schriftstück beschäftigt. Martina Schneibergová hat den Geschichtswissenschaftler getroffen und ihn zu der Bibel befragt.

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Ausstellungssaal mit dem Bibel-Manuskript  (Mitte) | Foto: František Záruba

Herr Pacovský, vor einigen Tagen wurde auf der Burg Lipnice eine Ausstellung eröffnet, die die Bibel von Lipnice vorstellt. Warum wurde die Handschrift, die 600 Jahre alt ist, so benannt?

„Sie heißt so, weil sie 1421 in Lipnice geschrieben wurde. Das wissen wir dank einer kurzen Anmerkung am Ende des Bibeltextes, in der steht, dass das Buch ,in Lypnicz‘ vollendet wurde.“

Geschah dies im Ort Lipnice, in dem die Burg steht? Denn es gibt mehrere Orte, die diesen Namen tragen.

Burg Lipnice nad Sázavou | Foto: Karel Pacovský

„Leider wissen wir das nicht. Wir wissen auch nicht, ob damit die Burg oder die Kleinstadt Lipnice gemeint war oder ob die Handschrift in einem ganz anderen Ort namens Lipnice entstand. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass es hier in Lipnice nad Sázavou war, weil dieses Lipnice am wichtigsten war. Die anderen gleichnamigen Orte sind sehr klein, es handelt sich um Dörfer. Lipnice nad Sázavou ist eine Stadt mit einer großen Burg. Die Burg gehörte damals einem bedeutenden Adeligen – Čeněk (Vinzenz, Anm. d. Red.) von Wartenberg. Er war Oberstburggraf von Böhmen. Das war eine wichtige Stellung im Königreich in der Zeit vor den Hussitenkriegen. Vielleicht bot dieser einflussreiche Mann dem Schreiber der Bibel von Lipnice Zuflucht. Aber dies sind nur unsere Überlegungen.“

Das Exponat – die Bibel von Lipnice – wurde aus dem Museum der Bibel in Washington für die Ausstellung geliehen. Wie war das Schicksal der Handschrift im Laufe der Jahrhunderte?

Vernissage | Foto: František Záruba

„Wir wissen nicht, an welchem Ort der Schreiber mit der Abschrift der Bibel begonnen hat. Vielleicht stammte er aus Prag und suchte in Lipnice nur Zuflucht. Wir wissen, dass die Handschrift um die Mitte des 15. Jahrhunderts wahrscheinlich in Prag neu verziert wurde. Im 16. Jahrhundert bekam sie einen neuen Einband – vermutlich in Süddeutschland. Davon zeugen einige Elemente des Einbands. Anschließend gab es ein langes Schweigen, was das Buch betrifft – es ist nicht bekannt, was mit ihm passierte. Erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts tauchte die Bibel wieder auf: Sie befand sich in einer Privatsammlung in Oxford. Dann wurde sie zuerst nur innerhalb Europa weiterverkauft. Im 21. Jahrhundert kaufte eine Familie aus den USA die Handschrift und schenkte sie dem neu gegründeten ‚Museum of the Bible‘ in Washington.“

Wodurch unterscheidet sich diese Bibel von anderen Bibeln, die vielleicht bekannter sind?

Lucie Doležalová und Karel Pacovský | Foto: Archiv von Karel Pacovský

„Auf den ersten Blick unterscheidet sie sich nicht allzu viel. Sie ist lateinisch geschrieben. Das war im Mittelalter die üblichste Sprache dafür in Europa. Wenn wir uns die Bibel näher anschauen, zeigt sie uns gut auch die Situation um ihre Entstehung während der Hussitenkriege. Die Bibel von Lipnice war bestimmt sehr teuer, denn sie ist auf Pergament geschrieben. Das war bedeutend aufwendiger als ein Text auf Papier. Die Bibel ist mit Bildern schön illuminiert. Das allein macht sie jedoch nicht einzigartig, sondern dadurch, wie sie den Kontext ihrer Entstehung widerspiegelt. Wir wissen, dass der Großteil des Textes von einem Schreiber geschrieben wurde, der mit einem Illuminator zusammenarbeitete. Aber kurz vor der Vollendung des Textes musste der Schreiber den Ort verlassen und damit auch den Illuminator. Das letzte Buch der Bibel – die Offenbarung – hat keine Verzierungen des ursprünglichen Illuminators mehr. Wahrscheinlich musste der Schreiber während der Hussitenkriege aus Prag oder einem Ort nahe Prag fliehen. Sein Werk hat er anschließend in Lipnice beendet. Etwas ganz Besonderes ist eine goldene Nachschrift am Ende des Textes – das sogenannte Kolophon. Es enthält den Namen des mutmaßlichen ersten Besitzers der Handschrift, Matthias von Raudnitz. Er kam aus Roudnice nad Labem. Aber wir wissen nicht, wer der Mann war. Vielleicht war er ein Priester, denn Priester beherrschten die lateinische Sprache gut. Die Bibel enthält zudem viele Hilfsmittel für das Studium des Textes. Wir nehmen an, dass der Besitzer ein gut gebildeter Mann war, der an der damaligen religiösen Auseinandersetzung interessiert war. Das belegen die sogenannten Maniculae – das sind Zeigehändchen, die bestimmte Verse betonen. Die Themen dieser Verse zeigen, dass der erste Leser der Handschrift eher konservativ war. Er sprach sich gegen radikale Ansichten aus. Unter anderem wollte er, dass Gottesdienste weiterhin nur in Kirchen gefeiert werden.“

Kommen wir nochmals auf das Kolophon zurück. Was ist das überhaupt?

Ausstellung über die Bibel von Lipnice | Foto: Luboš Pavlíček,  ČTK

„Es ist eine Angabe am Ende eines Textes. Oft steht da der Name des Werks oder des Besitzers und des Schreibers. Im Fall der Bibel von Lipnice wird Matthias von Raudnitz genannt, vermutlich der erste Besitzer der Handschrift. Zudem wird im Kolophon die Bibel selbst charakterisiert.“

Und zwar wie?

„Sie wird dort als ‚Schild des Glaubens‘ bezeichnet. Das ist einzigartig.“

Kommt diese Bezeichnung in anderen Handschriften nicht vor?

Bibel von Lipnice in elektronischer Form | Foto: Luboš Pavlíček,  ČTK

„Nur in einer einzigen Handschrift, die auch aus Böhmen stammt. In anderen Gegenden Europas ist keine derartige Charakterisierung bekannt.“

Der erste Besitzer und Leser der Bibel war nach Ihren Erkenntnissen ein eher konservativer Mensch. War er Katholik oder eher Utraquist?

„Das ist eine schwierige Frage. Wichtig finde ich den Satz am Ende der Bibel über den Schild des Glaubens, mit dem die Söhne Gottes kämpfen, der sonst nirgendwo zu finden ist. Ich denke, dass eine solche Auffassung und Hochschätzung der Bibel eher für die Hussiten typisch war.“

Wussten die Experten von der Bibel, oder ist sie dann plötzlich einfach aufgetaucht?

Bibel-Museum in Washington | Foto: Fuzheado,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0 DEED

„Sie ist auf einmal im 20. Jahrhundert aufgetaucht und wurde anschließend bei verschiedenen Auktionen angeboten. Aber erst seitdem sie dem Bibel-Museum in Washington gehört, war es möglich, die Handschrift richtig zu studieren. Das Museum hat die Bibel fotografiert und uns gute Fotos zugeschickt.“

Wie ist die Idee entstanden, eine Ausstellung über die Bibel in Tschechien zu veranstalten?

„Auf die Idee kam Ladislav Langpaul, der in der Nähe von Lipnice lebt. Er ist Mitglied des Vereins für die Rettung des Geburtshauses von Jan Zrzavý. Der namhafte tschechische Maler stammte aus Okrouhlice, das nahe Lipnice liegt. Als Ladislav Langpaul feststellte, dass es eine Bibel gibt, in der Lipnice erwähnt wird, und dass die Handschrift vor 600 Jahren entstanden ist, wollte er die Bibel sozusagen nach Hause zurückholen. Das war sein großer Traum. Und dies ist ihm gelungen. Er hat alles mit dem Bibel-Museum in Washington organisiert, und in diesem Jahr ist die Bibel auch wirklich in Lipnice zu sehen.“

Sie haben mit Kollegen eine Monografie über die Bibel von Lipnice geschrieben. Das Buch wurden eben auch vom erwähnten Verein für die Rettung des Geburtshauses von Maler Zrzavý herausgegeben. Worauf konzentrierten Sie sich in der Monografie?

Teil des Autorenteams | Foto: František Záruba

„Das Buch stellt die Handschrift vor. Einige Kapitel sind dabei direkt der Bibel von Lipnice gewidmet. Zudem gibt es da ein Kapitel, das als eine Einführung in die mittelalterliche Handschriftenkunde dient. Und nicht zuletzt ordnen wir die Bibel in einen breiteren Kontext der damaligen Bibelproduktion ein. Zu der betreffenden Zeit erschienen auch schon Bibeln, die auf Tschechisch geschrieben waren. Einige weitere Kapitel beschreiben die Burg Lipnice in der Zeit der Entstehung der Handschrift.“

Haben die einfachen Leute im 15. Jahrhundert überhaupt die Bibel an sich gekannt?

Monografie über die Bibel von Lipnice | Foto:  Verein für die Rettung des Geburtshauses von Maler Zrzavý

„Die meisten Leute damals waren Analphabeten, sie konnten also selbst die Bibel nicht lesen. Aber sie kannten die Inhalte der Bibel, meist aus den Predigten und der Kunst. Denn in den Kirchen befanden sich damals viele Malereien, die biblische Themen hatten.“

Welche Rolle spielte die Bibel in der damaligen Zeit?

„Damals kam es zu interessanten Veränderungen, was das Verständnis der Bibel betraf, und das vor allem in Böhmen. Bis zum Konzil von Konstanz von 1414 bis 1418 gab es drei Päpste. Diese Tatsache stellte die Autorität der Kirche und des Papsttums in Frage. Viele Menschen machten sich Gedanken über die Rolle der Kirche. Einige Theologen aus Prag hoben dabei die Rolle der Bibel für den Glauben hervor. So hieß es, aus der Bibel könne man die Worte Christi lernen und darüber lesen, wie die Apostel lebten. Das stand im Widerspruch zur Lebensweise der damaligen kirchlichen Würdenträger.“

Monografie über die Bibel von Lipnice | Foto:  Verein für die Rettung des Geburtshauses von Maler Zrzavý

Was wird in der jetzigen Ausstellung auf der Burg Lipnice gezeigt – außer dem Hauptexponat, der Bibel selbst?

„Die Bibel ist das einzige wertvolle Exponat. Zudem sind dort Kopien weiterer Handschriften zu sehen. Und ein Begleittext gibt es ebenfalls.“

Die Burg als Entstehungsort der Handschrift ist nicht der einzige Ort, an dem sie gezeigt wird. So soll sie auch im Prager Klementinum ausgestellt werden. Wird dort dieselbe Ausstellung zu sehen sein wie in Lipnice?

„Im Grunde ja. Zusätzlich werden dort aber auch vier weitere damalige Bibeln gezeigt. Das sind Originalhandschriften aus der Nationalbibliothek in Prag. Die Ausstellung in der Nationalbibliothek findet im September statt.“

Mehr über die Bibel von Lipnice finden Sie unter: https://lipnicebible.ff.cuni.cz/en

Die Ausstellung über die Bibel von Lipnice ist bis 29. August dieses Jahres auf der Burg Lipnice zu sehen.

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