Chopin zwischen Fontänen und Kolonnaden
Frédéric Chopin war Böhmen als Künstler und als Mensch verbunden. Mehrere seiner Musiklehrer stammten aus dieser Gegend. Insgesamt vier Mal besuchte der Komponist Böhmen. Im Sommer 1836 hielt er sich in Mariánské Lázně / Marienbad auf. Hier soll er sich mit Maria Wodzińska verlobt haben, die er seit seiner Kindheit kannte. Zur Heirat kam es allerdings nicht. Das Gästehaus, in dem Chopin abstieg, ist heute Sitz der 1959 gegründeten Chopin-Gesellschaft Tschechische Republik. Diese veranstaltet alljährlich in der dritten Augustwoche die Marienbader Chopin-Festspiele. Im Folgenden ein Interview mit dem Vorsitzenden der Chopin-Gesellschaft, Professor Ivan Klánský.
Herr Professor Klánský, die diesjährigen 62. Marienbader Chopin-Festspiele hätten bereits 2020 stattfinden sollen. Wegen der Corona-Pandemie wurden sie im vergangenen Jahr abgesagt. Nun darf wieder vor Publikum musiziert werden. Was ist das für ein Gefühl für Sie?
„Für einen Veranstalter ist es immer eine Erleichterung und ein Glück, wenn etwas, das nicht ganz sicher war, doch möglich ist. Noch im April und Mai stand es fünfzig zu fünfzig, dass wir die Festspiele veranstalten dürfen. Gott sei Dank, jetzt sind wir schon mitten drin. Der erste Tag ist bereits vorüber, und heute kommt das zweite Konzert. Ich muss also sagen, ich bin außerordentlich glücklich.“
Chopin steht bei der Mehrheit der neun Konzerte während des Festivals mit auf dem Programm. Es kommen aber auch zahlreiche andere Komponisten zur Aufführung wie Beethoven, Schubert, Dvořák oder Brahms. Wie ist das Programm der Chopin-Festspiele ausgerichtet?
„Natürlich sind die Festspiele dem großen polnischen Romantiker gewidmet, aber wir möchten auch eine Vielfalt haben. Obwohl Chopin superschöne Klaviermusik geschrieben hat, komponierte er leider keine symphonische Musik und nur sehr wenig Kammermusik. Ich glaube, für die Zuhörer ist es ganz außerordentlich wichtig, dass auch Kompositionen von weiteren großen, weltberühmten Komponisten in Marienbad erklingen.“
Alle zwei Jahre wird in Verbindung mit den Chopin-Festspielen ein Klavierwettbewerb veranstaltet: der Wettbewerb für junge Interpreten des Klavierwerks von Frédéric Chopin. Er muss diesmal leider entfallen, weil die Bewerber aus außereuropäischen Ländern wegen der Corona-Krise nicht kommen können. Aber ganz allgemein: Wie alt sind die Bewerber, und in welchen Kategorien können sie antreten?
„Sie können in zwei Kategorien antreten: Es gibt eine für junge Pianisten bis 19 Jahren und eine bis 29 Jahren. Und es kommen immer jüngere Bewerber. Denn früher, als ich jung war – wenn da ein Pianist mit 18 oder 19 die Chopin-Etüden gut gespielt hat, war das schon eine Besonderheit. Aber heutzutage ist es im Grunde eine Pflicht. Wenn jemand zum Beispiel mit 15 Jahren am Konservatorium in Prag Musik studieren möchte, dann muss er schon in diesem Alter Chopin-Etüden spielen können. Das heißt, es geht alles schneller, und vielleicht werden in Zukunft auch Dreizehn-, Vierzehn- oder sogar Zwölfjährige teilnehmen. Und noch etwas ist interessant: Früher wurde die Musik Chopins hauptsächlich in Europa gepflegt. Aber jetzt stammen viele gute Pianisten aus den Vereinigten Staaten, China, Japan oder Südkorea, also von außerhalb Europas. Und das sind genau die Länder, die jetzt wegen der Corona-Krise gesperrt sind. Deshalb haben wir den Wettbewerb auf das Jahr 2022 verschoben – ähnlich wie Olympia in Tokio auch um ein Jahr verschoben wurde.“
Und jetzt haben die Spiele doch stattgefunden. Kommt es vor, dass Gewinner des Wettbewerbs nach Marienbad zurückkehren, um bei den Chopin-Festspielen aufzutreten?
„Ja, das ist ein Teil des Preises. Der erste Preis sind 20.000 tschechische Kronen plus ein Konzert im folgenden Jahrgang der Chopin-Festspiele. Beim letzten Wettbewerb hatten wir zwei Preisträger, einen Tschechen und einen aus Polen, und beide treten bei den diesjährigen Festspielen auf.“
Wie heißen diese beiden Künstler?
„Der junge tschechische Pianist ist Vojtěch Trubač und der polnische Edwin Szwajkowski.“
Die Chopin-Festspiele haben immer ein Begleitprogramm. Auch diesmal ist es wieder so. Es gibt unter anderem zwei Ausstellungen, eine im Stadttheater und eine im Gesellschaftshaus. Was ist bei diesen beiden Ausstellungen zu sehen?
„Die Ausstellung im Stadttheater enthält einen Rückblick auf 60 Jahre Klavierwettbewerb. Seit 1992 ist dieser Wettbewerb international, und wir haben viele Materialien wie Fotografien, Programme und Plakate. Das alles wird jetzt ausgestellt. Interessant ist daran, die damals noch sehr jungen Pianisten zu sehen, die heute große Künstler mit Weltruf sind. Und wir zeigen auch, wie die Programme damals vor 50 oder 60 Jahren zusammengestellt waren – viel einfacher als heute. Was damals für den Gewinn eines Preises ausreichte, wäre wäre heute nicht mehr akzeptabel, man muss viel mehr und schwierigere Stücke spielen. Und die zweite Ausstellung ist die einer sächsischen Klavierfirma, die schon längere Zeit mit uns zusammenarbeitet. Sie zeigt ihre Instrumente, von den älteren bis hin zu den ganz neuen.“
Für Sie muss der Rückblick auf die Geschichte der Klavierwettbewerbe im Stadttheater ganz besonders interessant sein, weil Sie schon lange der künstlerische Leiter der Chopin-Festspiele sind. Wie lange sind Sie schon dabei?
„Eigentlich seit 1995. Ich habe diese Funktion von meinem Klavierlehrer an der Musikakademie, Herrn Professor František Rauch, geerbt. Und ich habe damit viel Freude, denn ich liebe Chopin und junge Menschen, die ihr Bestes geben, um so schön wie möglich Klavier zu spielen. Das ist eine große Ehre für mich.“
Die Chopin-Festspiele sind dezentral organisiert, die Konzerte finden außer in Marienbad auch im Schloss Königswart und im Kloster Tepl statt. Welches Ziel verfolgen Sie damit?
„Wir schauen schon seit mehreren Jahren darauf, dass die Musik auch an anderen Orten erklingt, wie eben dem Kloster Tepl oder dem Schloss Königswart. Es ist nur ein kurzer Weg dorthin, und viele Zuhörer genießen es, die Musik in den dortigen, wunderschönen Sälen zu hören.“
Und die ganze Region wird dadurch aufgewertet. In Marienbad selbst werden vor allem zwei Konzertstätten genutzt, das Stadttheater und das Gesellschaftshaus. Wie steht es um die Akustik an diesen Orten?
„Ich glaube, beide Säle haben eine ganz gute Akustik. Der Saal im Stadttheater ist kleiner, er eignet sich besser für Kammerkonzerte und Solo-Rezitale. Und der Saal im Gesellschaftshaus ist größer, in ihm finden rund 500 Zuhörer Platz. Wir wir veranstalten dort die Orchesterkonzerte. Ab und zu machen wir aber auch Kammerkonzerte in der evangelischen Kirche von Marienbad.“
Neben einheimischen Musikern und Ensembles wirken polnische und ungarische Solisten sowie der finnische Pianist Henri Sigfridsson an den diesjährigen Chopin-Festspielen mit. Henri Sigfridsson spielt am Donnerstag ein wenig bekanntes Werk, die Studien über Chopins Etüden von Leopold Godowsky. Was zeichnet dieses Werk aus?
„Leopold Godowsky war ein wunderbarer Pianist des 19. Jahrhunderts. Und er hat die außerordentlich schwierigen Etüden Chopins, die natürlich für zwei Hände geschrieben sind, noch schwieriger gemacht, indem er sie für nur eine Hand bearbeitet hat. Das ist der absolute Gipfel der physischen Möglichkeiten eines Pianisten. Sigfridsson ist ein wunderbarer Pianist, er hat einmal den Beethoven-Wettbewerb in Bonn gewonnen, er zählt zu den technisch besten Pianisten der Welt. Ich bin sehr neugierig, wie er sich mit diesen schwierigen Stücken präsentiert. Denn ich habe es noch nie erlebt, dass jemand fähig ist, alle Etüden nur mit der linken Hand zu spielen.“
Die Orchesterkonzerte der Chopin-Festspiele bestreitet das Westböhmische Symphonieorchester Marienbad. Früher gab es im damals vorwiegend deutschsprachigen Marienbad eine Kurkapelle, sodass die Orchestertradition hier bis 1814 zurückverfolgt werden kann. Die Marienbader Symphoniker sind heute ein ständiger Klangkörper, der sich neben klassischen Orchesterstücken auch dem Fach der Opern und Operetten widmet. Wo kann man die Marienbader Symphoniker hören, wenn nicht gerade Chopin-Festspiele sind?
„Das Westböhmische Symphonieorchester ist durchaus etabliert, es gibt die ganze Saison hindurch mehrere Konzertreihen mit besten Solisten aus Tschechien, aber auch aus dem Ausland. Die Symphoniker unternehmen auch Konzerttourneen in Sachsen und Bayern. Der zweite Bereich ist die ursprüngliche Rolle der Kurkapelle. Das heißt, während der Kursaison geben die Musiker in der Kolonnade schöne Konzerte für Touristen und Kurgäste, und abends spielen sie symphonische Musik auf höchstem Niveau.“
Herr Professor Klánský, wir haben nun dieses ganze Gespräch in wunderbarem Deutsch geführt, würden Sie unseren Hörern am Ende noch erklären, wie es kommt, dass Sie die Sprache so gut beherrschen?
„Ich spreche überhaupt nicht perfekt Deutsch, das haben Sie gehört. Aber ich hatte Glück, dass ich über zehn Jahre als Klavierprofessor in Luzern tätig sein konnte. In der Schweiz spricht man natürlich eher Schwyzerdütsch als Hochdeutsch, aber ich habe doch etwas dazugelernt. Ich spreche also Deutsch, aber leider nicht perfekt.“
Dann wünsche ich Ihnen weiterhin viel Erfolg mit den Chopin-Festspielen und danke für das Gespräch…
„Dankeschön.“
Die diesjährigen Chopin-Festspiele dauern noch bis zum 21. August.