Die Jagd nach dem Mandat: Das Phänomen der Parteiüberläufer in Tschechien
Etwa 13 Prozent aller Kandidaten, die bei den Wahlen am 8. und 9. Oktober neu oder erneut ins Abgeordnetenhaus einziehen wollen, waren zuvor schon Mitglied in anderen politischen Parteien oder Bewegungen. Eine Daten-Analyse vom Nachrichtenportal irozhlas.cz hat ergeben, dass sich von insgesamt 5258 Kandidaten fast 600 früher in anderen Parteien engagiert haben, als für die sie sich jetzt haben aufstellen lassen. Diese Überläufer sind in Tschechien ein häufiges Phänomen und werden zumeist knapp vor oder nach Wahlen sichtbar.
Von Überläufern oder auch politischem Tourismus sprechen Analytiker, wenn Politiker einmal oder öfter ihre Parteimitgliedschaft wechseln. Der klassische Fall ist gegeben, wenn sich eine Partei zerstreitet und ein Teil der Mitglieder eine neue bildet. Bei sich nähernden Wahlen nehmen Überläufer aber oft auch bessere Chancen auf ein Mandat wahr. Oder sie verhelfen einer sich bildenden Regierung zur Mehrheit. Hier spiele der Machtinstinkt eine große Rolle, meint Petr Hartman, politischer Kommentator beim Tschechischen Rundfunk:
„Das Phänomen der Überläufer zeigt sich auch bei Menschen, die sich gar nicht für Politik interessieren. So haben sie aber Zugang zu Informationen, vor allem während der Koalitionsverhandlungen nach Wahlen. Falls zu diesem Zeitpunkt die Kräfteverteilung nicht eindeutig ist und keine Regierung gebildet werden kann, gibt es entweder die Möglichkeit einer Neuwahl oder aber die einiger Überläufer. Exemplarisch war dies zu beobachten, als der Bürgerdemokrat Mirek Topolánek 2007 seine Regierung mit Hilfe zweier Sozialdemokraten bilden konnte.“
Wie sich die Regierungsbildung nach den im Oktober anstehenden Abgeordnetenhauswahlen gestalten wird, wissen wir heute noch nicht. Aus der Redaktion von irozhlas.cz gibt es aber eine Analyse zu Parteiwechslern, die sich in diesem Jahr auf die einzelnen Kandidatenlisten haben setzen lassen. Dabei treten verschiedene Motivationen für politischen Tourismus zutage.
Die Regierungspartei Ano von Premier Andrej Babiš etwa hat ihre Listen dieses Mal vor allem mit bekannten Gesichtern und erfahrenen Politikern aus den eigenen Reihen besetzt. Das war bei der Wahl 2013 noch anders. Damals hatte sich Ano als Protestbewegung gerade neu gegründet und war auf Überläufer angewiesen, erläutert Hartman:
„Der Hauptgrund dafür liegt darin, dass Babiš der Öffentlichkeit gern Fachleute anbietet. Auch wenn er behauptet, dass für Politik kein Expertentum notwendig ist und die Managerfähigkeiten wichtiger seien. Trotzdem ist Politik ein Handwerk, das erlernt werden muss. Darum war es auch kein Zufall, dass Ano 2013 erstmals ins Abgeordnetenhaus einzog mit einer Kandidatenliste voller Menschen mit Erfahrungen aus anderen Parteien. Und es ist selbstverständlich, dass nun, da Ano das dritte Mal in die Wahl zieht und dies auch noch in der Position des Favoriten, die Kandidatenlisten mit Parteimitgliedern bestückt werden, die der Öffentlichkeit schon durch unterschiedliche Funktionen bekannt sind.“
Jakub Grim, der als Redakteur bei irozhlas.cz die Kandidatenanalyse durchgeführt hat, verweist dahingehend auf ein neu entstehendes Problem:
„Dies führt unausweichlich zu einer großen Anhäufung an Funktionen. Dabei hat Ano-Chef Andrej Babiš diese Praxis wiederholt an seinen untergeordneten Parteikollegen kritisiert. Der Politologe Petr Just erklärt dieses Phänomen damit, dass Ano mittlerweile eine feste personelle Basis hat und seine Mitstreiter nicht mehr, wie in der Vergangenheit, aus anderen Parteien rekrutieren muss.“
Ano liegt aktuellen Umfragen zufolge mit 27 bis 30 Prozent in der Wählerpräferenz ganz vorne. Dieser Erfolg zieht Politiker aus anderen Parteien an, und so finden sich auf den Kandidatenlisten auch drei Überläufer aus Gruppierungen des mittleren und unteren Parteispektrums: aus der Bürgerlichen Demokratischen Allianz (ODA), der Partei der Zeman-Anhänger sowie der Sportlerpartei. Solche Fälle müssten von der Parteiführung genau geprüft werden, warnt Kommentator Hartman:
„Obwohl Ano seit acht Jahren an der Regierung ist, geriert sie sich immer noch als oppositionelle Protestpartei, die für bestimmte Dinge kämpft. Weil sie aber in der politischen Szene schon fest angesiedelt und auch erfolgreich ist, lockt sie natürlich verschiedene weitere Mitstreiter an. Es liegt dann an den internen Mechanismen, um Interessenten herauszufiltern, die nur auf den Erfolg aus sind. Damit würde ein politischer Tourismus unterbunden werden, bei dem solche Personen im Falle eines Misserfolges wieder abwandern.“
Abwanderung von den Sozialdemokraten in nationalistische Parteien
Mit dem gegenteiligen Problem hat der kleine Koalitionspartner ČSSD zu kämpfen. Die Sozialdemokraten müssen den bisherigen Umfragen nach befürchten, im Oktober nicht wieder ins Abgeordnetenhaus einzuziehen. Neuzugänge gibt es unter ihren Kandidaten kaum. Hartman sieht hier seine These bestätigt, dass Überläufer vor allem in erfolgreiche Parteien wechseln:
„Die ČSSD ist nicht nur unattraktiv für politische Touristen, auch mehrere eigene Mitglieder wollen für sie derzeit lieber nicht kandidieren. Sie wollen mit der Ausrichtung der aktuellen Führung nichts zu tun haben. Und einige der Kandidaten sind deswegen sogar von den Listen wieder gestrichen worden. Dies ist die Folge eines internen Machtkampfes, aus dem Parteichef Jan Hamáček und seine Anhänger als Gewinner hervorgegangen sind. Sie sind nur mit jenen Parteikollegen in den Wahlkampf gezogen, die ähnlich eingestellt sind. Die anderen sind außen vor geblieben.“
Hartman hält es für einen Fehler, dass die Sozialdemokraten nicht – wie eine Zeit lang erwogen – einige ihrer Listenplätze für Mitglieder der Grünen zur Verfügung gestellt haben und so eine Variation des politischen Tourismus ermöglicht hätten. Dennoch finden sich unter ihren Kandidaten zwei prominente Überläufer: der ehemalige Grünen-Vorsitzende Matěj Stropnický und der Chirurg Bohdan Babinec. Der Arzt wird von Hartman als sehr erfahrener politischer Tourist bezeichnet. In zurückliegenden Abgeordnetenhauswahlen habe er sich bereits von Kleinparteien aufstellen lassen, die eine stark nationalistische Ausrichtung hätten: die Arbeiterpartei der sozialen Gerechtigkeit (DSSS), die Souveränität (Suverenita) und Lev21 des ehemaligen Premiers Jiří Paroubek.
Diese Kombination ist kein Einzelfall. Die Sozialdemokraten haben derzeit mit der Abwanderung ihrer Mitglieder zu kämpfen. Viele von ihnen zieht es eben zu nationalistischen Gruppierungen, nicht zuletzt zu Tomio Okamuras „Freiheit und direkte Demokratie“, die auf Tschechisch die Abkürzung SPD trägt. Gleich drei ihrer insgesamt 14 Spitzenkandidaten in den Kreisen sind ehemalige Sozialdemokraten. Zudem finden sich auf den aktuellen Listen der SPD zwei ehemalige Vizevorsitzende von Ano, viele Überläufer aus der Partei der Zeman-Anhänger und einzelne Politiker aus verschiedenen Kleinstparteien. Hartman kommentiert:
„Daran ist zu erkennen, dass sich diese Partei aus den unterschiedlichsten Personen zusammensetzt und keine stark gefestigte Ideologie verfolgt. Tomio Okamura zeigt sich als erfolgreicher politischer Unternehmer. Wenn er eine Marktlücke entdeckt, füllt er sie sofort aus. Es ist für ihn kein Problem, sich scharf gegen Migration zu positionieren, wenn es ihm gerade vorteilhaft erscheint. Oder aber die Einschränkungen wegen der Corona-Pandemie abzulehnen. Wenn er also erkennt, dass ein bestimmter Politikstil gerade gefragt ist, begibt er sich in diese Richtung, und dies wiederholt erfolgreich. Daraus ergibt sich, dass er verschiedene Arten von Menschen anzieht. Außerdem muss Okamura ja auch seine Kandidatenlisten füllen.“
Okamuras SPD attraktiv für Überläufer
Der derzeitige Erfolg von Okamuras „Freiheit und direkte Demokratie“ zeigt sich auch darin, dass die Partei schon als möglicher Juniorpartner in einer neuen Regierung von Andrej Babiš gehandelt wird. Dies hoffen zwei oppositionelle Wahlkoalitionen noch zu verhindern. Das konservativ ausgerichtete Bündnis „Spolu“ (Gemeinsam) wird von Bürgerdemokraten (ODS), Christdemokraten (KDU-ČSL) und Top 09 gebildet. Unter ihren Kandidaten finden sich kaum Überläufer. Alle drei Parteien können aus einer robusten Mitgliederbasis schöpfen und sind durch eine große programmatische Nähe miteinander verbunden.
Weniger homogen gestaltet sich die Lage beim Bündnis aus Piraten und Bürgermeisterpartei Stan. Die Piraten haben einerseits wenige Überläufer unter ihren Kandidaten, was Politologen mit dem jungen Durchschnittsalter der Partei erklären. Wenn sich unter ihren Bewerbern doch Parteiwechsler finden, dann sind dies vor allem ehemalige Grüne. Andererseits steht auf den Listen von Stan eine ganze Reihe von Politikern, die bereits Erfahrungen in anderen Zusammenhängen haben. Dies sind ehemalige Mitglieder der etablierten Parteien wie Ano, ČSSD, ODS und Top 09 oder von weniger einflussreichen Gruppierungen wie der ODA, den Zeman-Anhängern oder den Grünen.
Diese personellen Unterschiede der beiden Koalitionspartner würden sich in der bisherigen Zusammenarbeit bemerkbar machen, beschreibt Hartman:
„Es bedeutet, dass die gemeinsame Kommunikation manchmal wirklich nicht einfach ist – eben weil die Piraten anders ticken. Die Bürgermeisterpartei Stan wiederum lockt Politiker aus anderen Parteien und Bewegungen an, weil sie ideologisch nicht so ausgeprägt ist. Sie ist eher eine Partei der Mitte, in der jeder etwas Nützliches finden kann. Außerdem agieren in ihr Leute, die aus der Regional- und Kommunalpolitik stammen und sich deswegen weiter öffentlich engagieren wollen. Diese Leute finden bei Stan die besten Ausgangsbedingungen.“
In sich geschlossene Kommunistische Partei
Hier ließe sich zudem erkennen, so fährt der Experte fort, dass nicht alle Überläufer gleich seien. Erfahrenen Politikern fielen ein Parteiwechsel und die Positionierung in neuen Zusammenhängen leichter. Wer Partei-Hopping betreibe und nur auf einen schnellen Mandatsgewinn aus sei, könne sich in neuen Gruppierungen nur schwer durchsetzen, so der Kommentator. Solche Leute haben laut Hartman vor allem in der kommunistischen Partei keine Chance:
„Wenn man sagt, die KSČM sei konservativ, mag das paradox klingen. Tatsächlich ist dies aber so – in dem Sinne, dass sie wie ein in sich geschlossener Block wirkt, zu dem man sehr schwer Zugang findet. Die Parteiführung hat auch kein Interesse, dass sich das ändert. Die Kommunisten schöpfen aus ihrer Substanz, und die hat sehr lange vorgehalten. Jetzt zeigt sich allerdings, dass sie immer weniger ausreicht. Die KSČM hat sich zwar lange als Protestpartei profiliert, aber aktuell hält sie die Regierung an der Macht. Ein ausgeprägter Protestcharakter kommt dadurch nicht zum Ausdruck, und dies war auch in der Vergangenheit nicht so. Wer also eine Protestpartei wählen will, der findet diese eher in der SPD als in der KSČM.“
Eine Protesthaltung motiviert häufig nicht nur Wähler, sondern eben auch Parteiwechsler. Das kann signalgebend sein, wenn es etwa um ganze Parteiflügel geht. Oder mit ihnen Regierungsmehrheiten erreicht werden. Einzelne Überläufer könnten auf gesamtpolitischer Ebene zumeist aber nur wenig bewirken, analysiert Hartman:
„Wenn es sich um Personen handelt, die lediglich die Kandidatenlisten auffüllen, haben sie keinen Einfluss auf die Abläufe in der Partei oder auch in der gesamten tschechischen Politik. Wenn aber wichtige Parteimitglieder abwandern, kann das Auswirkungen haben darauf, wie die Öffentlichkeit auf die entsprechende politische Gruppierung blickt und wie viel Einfluss sie weiterhin hat. In der Vergangenheit gab es einen solchen Fall, als sich Top 09 gründete. Plötzlich waren die Christdemokraten von der KDU-ČSL schlechter dran und verschwanden für eine Weile aus der oberen politischen Liga, kamen also nicht mehr ins Abgeordnetenhaus. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Überläufer die tschechische Politiklandschaft beeinflussen können. Das gilt aber vor allem für außergewöhnliche Situationen, wenn sich etwa eine Partei spaltet.“
Aktuell gebe es in der tschechischen Politiklandschaft keine Hinweise auf solche Vorgänge, schließt Hartman ab. Inwiefern aber Parteiwechsler wieder für die Regierungsbildung ausschlaggebend sein könnten, werden erst das Wahlergebnis und die folgenden Koalitionsgespräche im Oktober zeigen.
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