Politologe Schuster zum Wahlergebnis: „Eine gute Nachricht für die politische Kultur des Landes“

Oppositionsbündnis Spolu

Bei den Abgeordnetenhauswahlen hat das Oppositionsbündnis Spolu die meisten Stimmen geholt. Spolu besteht aus den Bürgerdemokraten, Christdemokraten und der Partei Top 09. Die Partei Ano von Premier Babis wurde zwar nach Stimmen knapp geschlagen, doch erhielt sie einen Sitz mehr im Abgeordnetenhaus. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass es nun eine Mehrheit der konservativ-liberalen Opposition in der unteren Parlamentskammer gibt. Das Bündnis Spolu hat auch bereits mit der Bürgermeisterpartei Stan und den Piraten eine Übereinkunft unterschrieben. Zum Wahlausgang haben wir den Politologen und Journalisten Robert Schuster um ein Gespräch gebeten. 

Robert Schuster | Foto:  Radio Prague International

Herr Schuster, das Bündnis Spolu hat die Abgeordnetenhauswahl gewonnen, und sie hat bereits ein Memorandum mit den Piraten und der Bürgermeisterpartei Stan über gemeinsame Regierungsverhandlungen unterzeichnet. Was halten Sie für die größte Überraschung beim Wahlergebnis?

„Die größte Überraschung ist sicherlich, dass der derzeitige Premier Andrej Babiš nicht gewonnen hat. In allen Umfragen vor den Wahlen galt er als Favorit. Doch er ist nicht als Stimmenstärkster durch die Zielgerade gekommen. Das Bündnis Spolu hat ein sehr gutes Wahlkampf-Finish hingelegt. Nicht zuletzt in den letzten Fernsehdebatten hat sein Spitzenkandidat Petr Fiala an Format gewonnen. Zudem hat man bei der Stimmenauszählung dann gesehen, dass die großen Städte den Ausschlag für den Sieg von Spolu gegeben haben.“

Andrej Babiš | Foto: Filip Jandourek,  Tschechischer Rundfunk

Premier Babiš hat in seiner ersten Rede nach den Wahlen, auf die man relativ lange warten musste, die Rolle des Abgeordnetenhauses etwas infrage gestellt. Später hat er sich dann wieder anders geäußert. Würde er in die Opposition gehen? Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?

„Babiš ist es sein ganzes bisheriges Leben lang gewohnt gewesen, Entscheidungen zu treffen – zunächst in seinem Konzern, dann bei der Partei Ano und zuletzt als Regierungschef. Nun droht ihm, dass er erstmals von den Entscheidungsstrukturen verbannt wird. Denn ich denke, das Memorandum der fünf Parteien, die diese beiden Wahlbündnisse bilden, ist ein Fundament für die künftige tschechische Regierung. Keine der Parteien wird sich von Babiš aus dieser Allianz herausbrechen lassen. Es gab ja auch die Vorstellung, dass die Partei Ano mit den Bürgerdemokraten oder anderen Parteien aus dem Bündnis Spolu Verhandlungen über eine Regierung führen könnte und damit eine Mehrheit erreicht. Doch das dürfte nicht gelingen. Das heißt, für Babiš bleibt jetzt nur noch die Rolle als einfacher Parlamentsabgeordneter. Oder im besten Falle kann er über den Posten des stellvertretenden Parlamentspräsidenten verhandeln. Dieser wird proportional vergeben. Weil die Partei Ano die stimmenstärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus blieb, ist es schwer vorstellbar, dass sie nicht in der Leitung der Parlamentskammer vertreten sein wird.“

„Dort in der Nähe zu Deutschland hat Babiš zudem versucht, die Angst vor einer neuen Migrationswelle zu schüren.“

Babišs Partei hat in jenen Regionen gesiegt, in denen größere soziale Probleme bestehen. Vereinfacht gesagt handelt es sich um die ehemaligen Sudetengebiete. Kann man das so sagen?

„Das lässt sich sicherlich so formulieren. In diesen Regionen – es sind die Kreise Karlsbad und Ústí nad Labem – hat er gezielt versucht, mit zusätzlichen Sozialleistungen zu punkten. Und das hat sicherlich einige Wähler angesprochen. Zudem hat er selbst im Kreis Ústí nad Labem kandidiert, der seit langem zu den problematischsten Regionen in Tschechien gehört. Dort in der Nähe zu Deutschland hat er zudem versucht, die Angst vor einer neuen Migrationswelle zu schüren. Seine Kampagne war auf diese Regionen angelegt. In Großen und Ganzen kann man sagen, dass dieses Kalkül aufgegangen ist. Dort, wo er gehofft hat zu gewinnen, hat er auch wirklich gewonnen. Das ist jetzt der Grundstein seiner künftigen Basis, wenn er tatsächlich im Ring der Präsidentschaftswahl stehen sollte.“

Ivan Bartoš | Foto: Ondřej Deml,  ČTK

Die Sieger führen jetzt schon Verhandlungen über die künftige Regierungsbildung. Wie sehen Sie die Rolle der Piraten? Sie dürften enttäuscht sein, nur vier Mandate gewonnen zu haben und in ihrem Wahlbündnis die deutlich schwächere Kraft zu sein…

„Das stimmt, die Piraten dürften enttäuscht sein über das Ergebnis. Sie werden das intern aufarbeiten müssen. Auch bei ihnen wird es wahrscheinlich zu einer Abrechnung kommen mit der Führungsriege um Ivan Bartoš und Olga Richterová. Vielleicht kann ein Ministerposten oder der Posten eines Vizepremiers ein kleines Trostpflaster sein für die Piraten. Aber ich denke, künftig werden sie sich schon überlegen, ob sie diese Allianz mit der Bürgermeisterpartei Stan aufrechterhalten wollen. Vielleicht wollen sie stattdessen bei den nächsten Parlamentswahlen lieber eine eigenständige Kandidatur anstreben.“

„Ich finde es eine gute Entwicklung, dass so viele Wähler in Tschechien Gebrauch gemacht haben vom Vorzugsstimmenrecht.“

Hat bei dem Wahlergebnis auch eine Rolle gespielt, dass die Bürgermeister in den Regionen besser bekannter sind als die Piraten?

„Genau, die Bürgermeister sind in ihren Gemeinden und auch im größeren Umfeld gut verankert. Es ist im Prinzip eine gute Nachricht, dass jetzt diese lokal verankerten Politiker ins Parlament kommen. Das sind ja keine professionellen Langzeitpolitiker, die ihr ganzes Berufsleben in den Abgeordnetenbänken verbringen. Sie sind stattdessen vor Ort aktiv, kennen sich dort aus und können neue Impulse nach Prag bringen. Ebenfalls finde ich es eine gute Entwicklung, dass so viele Wähler in Tschechien Gebrauch gemacht haben vom Vorzugsstimmenrecht. Sie haben ganz bewusst und gezielt bestimmte Kandidaten angekreuzt. Dadurch entsteht eine Art engerer Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten. Für die Demokratie halte ich das für positiv.“

Diese Vorzugsstimmen haben auch weiteren Parteien geholfen, nämlich den Christdemokraten…

„Ja, die Christdemokraten haben mehr als 20 Abgeordnete. Das ist für sie sensationell. Bei einer selbstständigen Kandidatur hätten sie das nie erreicht, da sie schwerpunktmäßig nur in einigen Regionen stark sind – in Südmähren oder in Zlín, also im Osten Tschechiens. In Prag haben sie zwei Abgeordnete. Insofern können sich die Christdemokraten sicherlich als Sieger fühlen. Man wird sehen, was sie daraus machen, denn einige neue Abgeordnete sind hinzugestoßen. Und die müssen sich in den neuen Flügeln hineinfügen. Zudem besteht die Frage, wie das Wahlbündnis zusammen agieren wird. Schließlich bilden sie drei selbstständige Fraktionen, die dem Plan nach sich aber koordinieren. Wie das gelingt, muss die Praxis zeigen.“

Bürgerinitiative „Eine Million Augenblicke für die Demokratie“ | Foto:  ČT24

Wie sehen Sie die Rolle der Bürgerinitiative „Eine Million Augenblicke für die Demokratie“, die schon vor ein paar Jahren demokratische Parteien zur Zusammenarbeit bei den Wahlen aufgefordert hat. Hat dies eine Rolle gespielt?

„Ich würde sagen, eher nicht. Meiner Meinung nach war dieses Kalkül, Wahlbündnisse zu bilden, noch dem früheren Wahlsystem geschuldet. Das Verfassungsgericht hat jedoch relativ kurz vor der Wahl das Wahlrecht geändert, wofür es auch kritisiert wurde. Von dem Wahlrecht zuvor haben die großen Parteien sehr stark profiziert. Deswegen schlossen sich die Bürgerdemokraten, die Christdemokraten und die Partei Top 09 zu einem Wahlbündnis zusammen. Jetzt hat sich gezeigt, dass solch ein Wahlbündnis auch den Sieg davontragen kann und sogar zwei Wahlbündnisse miteinander Regierungsgespräche führen. Das ist für die politische Kultur des Landes eine gute Nachricht. Diese hat in den letzten Jahren sehr gelitten, weil man aus der Position der Macht argumentiert hat, bei der Kompromisse fast verpönt waren. Kompromisse sind jedoch eine Voraussetzung für das demokratische Gemeinwesen.“

Foto:  Radio Prague International

Es gibt fast eine Million Wähler, die im Abgeordnetenhaus nun niemand vertritt. Si haben Parteien unterstützt, die nicht über die Fünf-Prozent-Hürde gekommen sind. Diese Situation hat nie zuvor gegeben. Könnte dies mit der Zeit zu einem Problem werden?

„Das könnte tatsächlich ein Problem sein. Vor allen Dingen wenn man bedenkt, dass sehr viele von ihnen Wähler von traditionellen Linksparteien sind. Die Kommunisten und die Sozialdemokraten sind jetzt völlig außerhalb des Parlaments, haben keine Vertretung, und das kann natürlich zu Schwierigkeiten führen. Man hat ja von einem der Kandidaten für die neue Führung der Kommunistischen Partei gehört, dass man jetzt stärker auf die Straße gehen, bei Protestaktionen und bei Demonstrationen auf sich aufmerksam machen wolle. In einer Demokratie ist das natürlich legitim, aber wenn das größere Ausmaße annimmt, dann ist das nicht unbedingt positiv. Das heißt, den Parteien, die jetzt ins Parlament gekommen sind, ist gut geraten, diese Million Wählerinnen und Wähler nicht zu vergessen und sich ihrer anzunehmen. Im Prinzip ist das auch nicht ausgeschlossen. Wenn man sich das Programm der rechtspopulistischen Partei von Tomio Okamura ansieht oder auch von Babišs Ano, dann sieht man, dass diese Gruppierungen auch sozialpolitisch affine Wähler ansprechen können. Das geschehe dann zwar auf populistische Art und Weise, aber ihre Stimmen würden Gehör finden.“

Muss die Regierung bald gebildet werden, um schnell die Arbeit aufnehmen zu können? Wird es umso schwieriger für sie, je länger der Prozess dauert?

Regierungskoalition | Foto: ČT24

„Genau. Je länger es dauert, desto größer werden auch die Schwierigkeiten und die Unsicherheit. Es geht dabei nicht nur um Investoren. Wenn sich zum Beispiel dieses Bündnis aus fünf Parteien, das sich abzeichnet, lange nicht einigen kann, droht eine instabile Regierungskoalition. Eine schnelle Einigung auf eine Regierung würde hingegen andeuten, dass man sich auch in Zukunft bei verschiedenen Themen wird sehr schnell einigen können. Das ist durchaus essentiell. Ich denke, diese fünf Parteien werden schon versuchen, sich bis Weihnachten in den Grundsätzen zu einigen. Und dann muss man natürlich auch die ganzen Fristen bedenken, die von der Verfassung gegeben sind. Dazu gehört zum Beispiel, dass es drei Versuche gibt, die Regierung zu bilden, und die Regierung eine Mehrheit vom Abgeordnetenhaus bekommen muss.“

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