Die Magd, die jüdischen Zwangsarbeitern auf dem Gut der Heydrichs half
Reinhard Heydrich war Stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren. Er gilt zudem als einer der schlimmsten Kriegsverbrecher unter den Nazis, weil er für die Organisation des Holocaust verantwortlich war. Ab dem Frühjahr 1942 residierte er auf einem Schloss nahe Prag. Zu seinem Personal gehörte auch Helena Vovsová. Die damalige Jugendliche war als Dienstmädchen bei Reinhard Heydrich und dessen Frau Lina angestellt. In dieser Zeit half sie jüdischen Gefangenen, die auf dem Schloss Zwangsarbeit leisten mussten – und riskierte damit ihr Leben.
Fast 90 Jahre lang hat Helena Vovsová in Panenské Břežany / Jungfern Breschan gelebt. Das ist der Ort vor den Toren von Prag, in dem sich die Familie Heydrich von 1941 bis 1945 ansiedelte – konkret in dem sogenannten Unteren Schloss, das zuvor einem jüdischen Eigner abgenommen worden war.
Als Jugendliche trat Helena Vovsová zunächst in den Dienst des sogenannten Reichsprotektors Konstantin von Neurath und seiner Frau. In einem Interview für die Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks sprach die heute 96-jährige Zeitzeugin vor kurzem über die damalige Zeit:
„Ich habe dort am 31. März 1941 angefangen, da war ich gerade 15 Jahre alt geworden. Wir wussten damals nicht, was mit mir geschehen sollte. Denn es war bereits Krieg und die weiterführenden Schulen geschlossen. Mein Vater behauptete, dass der Krieg nur ein Jahr dauern würde und man dann sehen werde. Zuvor war aber eine Bekannte, die in der Gärtnerei des Schlosses arbeitete, vorbeigekommen und hatte gesagt, dass dort Leute gebraucht würden. Da ich Blumen gerne habe, kam es so zu meinem Schicksal. Letztlich blieb ich dort bis 1945.“
Helena Vovsová half also dem Gärtner des Schlosses. Im September 1941 wurde Konstantin von Neurath auf unbestimmte Zeit beurlaubt von seiner Funktion als Reichsprotektor, also dem höchsten deutschen Aufseher im sogenannten „Protektorat Böhmen und Mähren“. Seine Aufgaben übernahm Reinhard Heydrich, der Planer des Holocaust. Offiziell wurde dieser aber nur als Stellvertretender Reichsprotektor bezeichnet.
Ins Untere Schloss in Panenské Břežany zog Heydrich aber erst im Frühling 1942. Das war nur wenige Monate vor dem Attentat auf ihn, das sich dieses Jahr zum 80. Mal jährt. Dem neuen Eigner sei sie allerdings fast gar nicht begegnet, sagt Helena Vovsová. Aber ausgerechnet seine Ankunft habe sie mitbekommen, gesteht sie:
„Uns war gesagt worden, dass Heydrich nach Ostern käme und man eine Begrüßungszeremonie plane. Deswegen wurde ich ins Forsthaus geschickt, um Tannenreisig zu holen. Als ich an das Holzgatter zur Straße zurückkam, sah ich zwei deutsche Soldaten auf Pferden. Einer davon war Heydrich, das wusste ich von Fotos. Er war früher gekommen als geplant. Heydrich sagte irgendetwas auf Deutsch zu mir. Für mich war klar, dass ich ihm das Gatter öffnen sollte. Ich warf das Reisig auf den Boden und machte auf. Dann rannte ich zum Schloss und rief ‚Jesses, Heydrich ist bereits hier. Ich habe ihn dort auf dem Pferd gesehen!‘ Alle waren überrascht, und es wurde darauf verzichtet, zur Begrüßung das Schloss zu schmücken.“
Und am Tag des Attentats auf Reinhard Heydrich sah sie diesen ein weiteres Mal – wie er nämlich am Morgen vor der Fahrt nach Prag die Treppe des Schlosses herunterging. Mit ihm seine Frau Lina sowie seine Tochter Silke, die er dann hochhob und umarmte. Nach dieser Szene schnitt Helena Vovsová weiter Gras, sah aber noch den Wagen kommen, der den Stellvertretenden Reichsprotektor abholte und zum Dienstsitz auf die Prager Burg bringen sollte.
Laut den historischen Quellen stieg Heydrich am 27. Mai 1942 um 10.30 Uhr in Panenské Břežany ins Auto. Es war ein Mercedes-Benz mit geöffnetem Verdeck. Im Stadtteil Libeň warteten die tschechoslowakischen Widerstandskämpfer Jan Kubiš und Jozef Gabčík. Als der Wagen in einer Kurve bremsen musste, versuchten sie zunächst, mit einer britischen Sten Gun zu schießen. Da diese aber Ladehemmungen hatte, warfen sie schließlich eine Granate auf den Wagen…
„Ist er tot“
Am Tag des Attentats hörte Helena Vovsová gegen Mittag Geschrei. Da wusste sie aber noch nicht, was geschehen war. Ebenso blieb ihr verschlossen, warum deutsche Soldaten das Gelände des Schlosses durchsuchten. Am Nachmittag hatte sie dann im Gewächshaus zu tun.
„Da kam Heydrichs Pferdeknecht Hans und hatte Tochter Silke auf dem Arm, die damals vielleicht drei Jahre alt war. Und ich fragte: ‚Hans, was ist denn da los?‘ Er sagte: ‚Es gab ein Attentat auf den Chef.‘ Ich dann: ‚Ist er tot?‘ Und er sagte: ‚Noch nicht“, erzählt Vovsová.
Acht Tage später starb Reinhard Heydrich an den Folgen seiner Verletzungen durch Granatensplitter. Als Rache für den Tod des nationalsozialistischen Politikers griff die SS zu Terrorakten gegen die tschechische Bevölkerung. Unter anderem wurden die Dörfer Lidice und Ležáky überfallen, die Menschen entweder ermordet oder ins KZ verschleppt und die Häuser niedergebrannt.
Auf Schloss Panenské Břežany blieb die hochschwangere Witwe mit ihren drei Kindern zurück. Helena Vovsová nennt Lina Heydrich bis heute spöttisch die „gnädige Frau“. In einem Interview für das Projekt „Paměť národa“ (Gedächtnis des Volkes) im Jahr 2014 schilderte die Zeitzeugin Folgendes:
„Ich bin fast täglich im Schloss gewesen, weil ich Gemüse und Blumen dorthin gebracht habe. Zudem war ich mit den Dienstmägden befreundet, die aber älter waren als ich. Und oft ließ man auch nach mir rufen, um auszuhelfen. Da habe ich dann alles mögliche Gerede darüber mitbekommen, ob die gnädige Frau an dem Tag gut oder schlecht geschlafen hatte. Wir haben aber auch sofort gemerkt, wenn sie nicht so gut geruht hatte. Dann stauchte sie zunächst die Leute in der Küche zusammen, kam danach in den Garten und schimpfte mit dem Gärtner. Außerdem ist sie wohl ebenso mit den Wachsoldaten verfahren. Ich würde sagen, dass sie sehr launisch war. Und sie war eine ziemliche Nationalsozialistin.“
Nach dem Tod ihres Mannes wurde Lina Heydrich ein Kommando jüdischer Strafarbeiter aus dem KZ Terezín / Theresienstadt zur Seite gestellt. Denn die Witwe wollte das Schloss umgestalten. Es waren rund 30 Männer, die Zwangsarbeit leisten mussten. Sie wurden mit zwei Lkws herangekarrt. Dem Personal wurde dann eingetrichtert, dass es sich nicht mit den Juden unterhalten dürfe. Einer von ihnen kam aber eines Tages auf Helena Vovsová zu:
„Es war Milan, der Jüngste von ihnen, ein hübscher Junge. Ich war 16 Jahre alt, er 18 oder 19. Er bat darum, dass ich ihm entweder etwas mitbringen oder kaufen sollte. So genau weiß ich das nicht mehr. Ich habe Ja gesagt. Aber meinen Eltern habe ich lieber nichts verraten, sie haben es nicht gewusst.“
Helena Vovsová freundete sich mit Milan an, aber bald brachte sie auch weiteren jüdischen Häftlingen vor allem Essen. Für den ältesten von ihnen, einen gewissen Miki Bauer, fuhr sie von Zeit zu Zeit nach Prag in die Dlouhá-Straße. Denn dort wohnte Mikis Halbbruder.
„Ich bin also immer wieder zu dem Bruder gefahren – bis ich an einem Tag höllisch Glück hatte. Ich wollte am nächsten Morgen wieder nach Prag fahren und sagte dem Gärtner, dass ich erst am Nachmittag zurück sei. Am folgenden Tag gegen zehn Uhr kam der Gärtner auf mich zu und fragte, ob ich wirklich jetzt schon weg müsste oder dies nicht noch bis zum Nachmittag Zeit hätte. Ich sagte: kein Problem. Also fuhr ich erst am Nachmittag. Im betreffenden Haus in der Dlouhá traf ich auf der Treppe eine Frau. Diese sprach mich an und fragte, ob ich nicht zu dem Bruder ginge. Noch bevor ich antworten konnte, sagte sie: ‚Machen Sie sofort kehrt, vor einer Stunde haben sie ihn abgeführt und die Wohnung versiegelt.‘ Ich hatte dermaßen Glück. Denn wäre ich schon am Morgen dort hingefahren, hätten sie mich auch geschnappt“, so Helena Vovsová.
Kritische Momente erlebte sie noch mehrere. Unter anderem auch deswegen, weil sie sich Briefe für ihren Freund Milan nach Hause schicken ließ.
Befreiung und internierte Sudetendeutsche
Als die jüdischen Zwangsarbeiter den Umbau des Schlosses vollendet hatten, wurden sie im Herbst 1943 zurück ins KZ Theresienstadt gebracht. Das bedeutete für sie den Transport ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Von jenen, die Helena Vovsová kennengelernt hatte, überlebte nur Milan Platkovský. Gleich nach dem Krieg nahm er wieder Kontakt auf, und man blieb auch befreundet, als er nach Chile zog. Milan beschrieb im Übrigen später Helenas Hilfe für die jüdischen KZ-Häftlinge in einem Buch.
Am 14. Februar 1944 wurden neue Häftlinge zum Schloss gebracht. Es waren deutsche, holländische, polnische und tschechische Zeugen Jehovas. Sie waren eingesperrt, weil sie sich weigerten, Kriegsdienst zu leisten. Einer von ihnen war Gärtner und hieß mit Nachnamen Müller. Helena Vovsová nannte ihn dědek – also „Opa“. Ihm und zwei weiteren half sie regelmäßig. Die Bibelforscher blieben auch noch auf dem Schloss, als sich Lina Heydrich bereits abgesetzt hatte.
„Als der Krieg zu Ende war, kam Opa Müller zu uns, um sich zu verabschieden. Ich habe aber leider sein Deutsch nicht gut verstanden. Jedenfalls war der Abschied an einem Samstag, und meine Mama buk gerade etwas. Das steckte sie ihm dann zu. Und ich weiß noch, dass mein Vater ihm ein gelbes Hemd und einen Hut gab – denn er trug immer noch die Häftlingskleidung“, so die damals 19-Jährige.
Helena Vovsová blieb die ersten Monate nach dem Krieg noch in Panenské Břežany, denn ihr Vater wurde Verwalter des Oberen Schlosses. In diesem hatte zuvor mit Karl Herrmann Frank eine weitere Nazi-Größe des Protektorats gewohnt. Später wurden in dem Schloss deutsche Frauen interniert. Laut früheren Berichten von Helena Vovsová fuhren regelmäßig sowjetische Soldaten dort hin und vergingen sich an den Frauen. Einer von ihnen, Gerta Schindler mit ihrem dreijährigen Sohn Günther, versuchte sie zu helfen. Erst Ende Oktober 1945 verließ sie Panenské Břežany – um schon bald wieder zurückzukehren. 1948 fand sie nämlich eine Anstellung beim Metallurgischen Forschungsinstitut, das sich im Unteren Schloss ansiedelte. So hat sie fast ihr ganzes Leben an diesem Ort verbracht. Erst vor einigen Jahren musste Helena Vovsová wegziehen – und zwar in ein Altersheim in Prag.