Lob des Opportunismus: Prager Czernin-Palais erzählt seine Geschichte

Czernin-Palais

Der Roman „Lob des Opportunismus“ von Marek Toman hat einen ungewöhnlichen Erzähler: den imposanten barocken Czernin-Palais auf dem Prager Hradschin. Das Gebäude kommentiert das Geschehen in seinen Gemäuern und damit auch die wichtigsten Ereignisse der tschechischen Geschichte vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Besonders beschäftigt den Palast das Schicksal eines seiner Bewohner: Jan Masaryk, der dort 1948 als tschechoslowakischer Außenminister durch den Sturz aus einem Fenster zu Tode kam. RPI hat mit dem Schriftsteller Marek Toman anlässlich seiner Lesung in München gesprochen.

Marek Toman  (rechts) | Foto: Markéta Kachlíková,  Radio Prague International

Muss immer der Stärkere beziehungsweise der weniger moralisch Handelnde siegen? Existiert die Gerechtigkeit, oder ist sie nur unser abstrakter Begriff? Das ist die zentrale Frage des Romans „Lob des Opportunismus“ von Marek Toman. Der 54-jährige Autor ist nicht nur Dichter, Prosaautor und Publizist, sondern auch Angestellter des tschechischen Außenministeriums, das im Czernin-Palais westlich der Prager Burg seinen Sitz hat.

„Ich arbeite seit mehreren Jahrzehnten bereits in dem Palais. Und ich denke, dass sich jede meiner Kolleginnen und jeder meiner Kollegen mit der Geschichte beschäftigt, die sich dort abgespielt hat. Und vor allem damit, was davon dort bis heute geblieben ist. Wir alle machen uns Gedanken darüber, wie sich gewisse Geschichtsmuster wiederholen und im Kreis zurückkehren. Ich wollte mich genau damit auseinandersetzen.“

Palast als Zeitzeuge und Kommentator der Geschichte Mitteleuropas

Czernin-Palais | Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

Da er Schriftsteller sei, habe eine literarische Aufarbeitung auf der Hand gelegen, sagt Toman und ergänzt:

„Auch die Perspektive war klar. Mir kam in den Sinn, dass das Palais selbst die Geschichte erzählen könnte. Diese Perspektive ermöglicht mir, Jan Masaryk oder Reinhard Heydrich darzustellen und dabei nicht die vorherrschenden Meinungen zu vertreten. Beziehungsweise ich konnte zu diesen Meinungen auf ungewöhnlichem Weg gelangen.“

Auf die Idee, den Palast selbst erzählen zu lassen, ist Marek Toman während eines Tags der offenen Tür gekommen:

Czernin-Palais | Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

„Ich habe Führungen für die Öffentlichkeit gemacht. Im Großen Saal hat mich jemand nach einem Detail gefragt. In solcher Situation weiß man entweder die Antwort, oder man muss ein bisschen fabulieren. Beim Nachdenken über die Antwort ist mir die Frage in den Sinn gekommen: Was würde das Czernin-Palais selbst dazu sagen? In dem Moment habe ich zum ersten Mal seine Stimme gehört. Später habe ich sie als Instrument für den Erzähler der Geschichte genutzt.“

Von der angesehenen Familie Czernin erbaut, hat das Palais in seiner langen Historie viele Funktionen erfüllen müssen. Es diente als Adelsresidenz, Kaserne, Armenhaus, Sitz des Reichsprotektors sowie als Außenministerium. So bewahrt der Palast in seinen Wänden viele Geheimnisse, die er auf eigene Weise interpretiert. Als Leitmotiv zieht sich durch das ganze Buch die Suche nach einem Verständnis für die Person und das tragische Ende des tschechoslowakischen Außenministers Jan Masaryk:

Badezimmer in der ehemaligen Wohnung von Jan Masaryk | Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

„Auch dazu haben mich meine Erfahrungen aus den Tagen der offenen Tür im Czernin-Palais geführt. Es kommen immer mehrere tausend Menschen, und alle wollen das Badezimmer in der ehemaligen Wohnung von Jan Masaryk sehen. Dabei zeigt sich, dass seine tragische Geschichte Teil einer gewissen tschechischen nationalen Psyche ist. Wobei ich einräumen muss, dass viele Menschen mit mir nicht einverstanden wären, dass so etwas überhaupt existiert. Aber diese Geschichte ist zweifelsohne ein Teil unserer Selbstwahrnehmung. Außerdem ist der Fall bis heute nicht geklärt. Meiner Meinung nach handelt es sich um die Geschichte eines Mordes. Wir wissen nicht, wer der Täter war, und müssen damit leben. Diese Geschichte kann nicht abklingen, weil sie sich im Kreis dreht.“

Ungeklärter Tod von Jan Masaryk

In den Morgenstunden des 10. März 1948 wurde die Leiche des damaligen Außenministers Jan Masaryk im Hof des Czernin-Palais gefunden. Sein lebloser Körper lag direkt unter dem offenen Fenster des Badezimmers seiner Dienstwohnung, die sich im obersten Stock des Außenministeriums befand. Die Frage, ob es Selbstmord, Mord oder ein Unfall war, beschäftigt Polizei und Öffentlichkeit in Tschechien bis heute. Bisher fanden fünf Ermittlungsrunden statt, keine hat aber ein eindeutiges Ergebnis gebracht. Und worauf stützt Marek Toman seine Vermutung, dass es sich um einen Mord gehandelt hat?

Wohnung von Jan Masaryk im Czernin-Palais | Foto: Olga Wassinkjewitsch,  Radio Prague International

„Es gibt die Aussagen vom Sohn einer sowjetischen Aufklärerin, die nach 1945 in der Tschechoslowakei als illegale Mitarbeiterin der sowjetischen Nachrichtendienste im Einsatz war. In den 1960er Jahren, als diese Dame schon pensioniert war, traf sie sich in Moskau mit ihren Kollegen. Einer von ihnen, Kapitän Bondarenko, sagte ihr damals, er selbst und sein Kollege hätten Jan Masaryk getötet. Sie hätten ihn aus dem Fenster gestoßen. Diese Geschichte ging auch durch die tschechischen Medien. Mit der Frau, Elisaweta Parschina, wurde ein Gespräch aufgenommen, zusätzlich bestehen die Aussagen ihres Sohns. Wir haben aber keine Möglichkeit, diese Informationen zu überprüfen, weil wir keinen Zugang zu den russischen Archiven haben. Die glückliche Zeit, als dies möglich war, dauerte nur ein oder zwei Jahre nach der Gründung der Russischen Föderation. Aber angesichts des aktuellen Geschehens in der Ukraine scheint es mir, dass diese Theorie nicht weit entfernt von der Wahrheit liegen dürfte.“

Die Arbeit am Roman dauerte etwa vier Jahre. Zahlreiche Quellen habe er dabei gesichtet, berichtet der Autor:

Jan Masaryk | Foto: Tschechisches Fernsehen

„Jan Masaryk ist eine bemerkenswerte Figur, der unverfälschte Verehrung entgegengebracht wurde. Es gibt etwa die schönen Memoiren seiner Partnerin, der US-amerikanischen Schriftstellerin Marcia Davenport, sowie weitere Veröffentlichungen. Dazu gehört etwa eine Publikation mit Anekdoten aus seinem Leben, aber auch seriöse Literatur. Es war kein Problem, sich mit den Details über ihn bekannt zu machen.“

Im Archiv des Außenministeriums wird zudem ein Bestand zu Jan Masaryk aufbewahrt:

Czernin-Palais | Foto: Ondřej Tomšů,  Radio Prague International

„Es ist eine Akte, die in der Zeit des ‚Protektorats Böhmen und Mähren‘ angelegt wurde. Deutsche oder tschechische Beamte im Palais haben damals kompromittierendes Material gegen Jan Masaryk gesammelt. Also Belege über seine Tätigkeit, die als Hochverrat eingestuft wurde, denn er arbeitete im tschechoslowakischen Widerstandskampf gegen das Deutsche Reich. Zu dem Material gehören zum Beispiel Ausschnitte aus der US-amerikanischen Presse mit seinen Reden gegen Deutschland.“

Existiert die Gerechtigkeit?

Im Roman bildet sich der erzählende Palast sehr viel auf seine Größe, seine Urteilsfähigkeit und seine Allwissenheit ein. Gleichzeitig erlebt er aber auch zarte Gefühle. So ist er verliebt in die Loreto-Kapelle – auf Tschechisch Loreta –, die auf dem Platz ihm gegenüber steht. In ihren gemeinsamen Dialogen drängt die Kapelle den Palast dazu, sich genau zu erinnern, wie es eigentlich mit dem Tod von Jan Masaryk war. Weiß der Palast dies und verschweigt es? Oder kann er sich tatsächlich nicht erinnern? Die Frage müsse vom Leser selbst beantwortet werden, sagt der Autor.

Quelle:  Wieser Verlag

Der Palast hat viel erlebt, er ist ein Akteur, Zeitzeuge und Kommentator der Geschichte Mitteleuropas. Diese Konstellation ermöglicht dem Autor, Fragen zu stellen, die im Titel des Romans – „Lob des Opportunismus“ – angedeutet werden:

„Ich gehe von einem Phänomen aus, das sich in der Geschichte des 20. Jahrhunderts hierzulande ständig wiederholt hat. Wir stellen uns nach jeder Geschichtswende die Frage, wie wir uns in der vorangegangenen Zeit verhalten haben. Haben wir moralisch gehandelt? Wie hätten wir uns verhalten sollen? Wir kommen immer wieder zur unangenehmen Erkenntnis, dass es Personen gibt, die sich damals wie heute gegenüber anderen behaupten können. Und dass wohl die beste persönliche Strategie in Mitteleuropa ist, ein Opportunist zu sein. Ich bin selbstverständlich nicht dieser Meinung, aber ich habe mich bemüht, mich auch mit diesem Phänomen, das uns allen hier bekannt ist, in meinem Roman auseinanderzusetzen.“

Der Roman „Lob des Opportunismus“ ist im Original 2016 erschienen und hat den Preis des Tschechischen Literaturfonds erhalten. In deutscher Übersetzung von Raija Hauck liegt er seit dem vergangenen Jahr vor. Marek Toman (geboren 1967) hat Gedichtbände, Kinderbücher und mehrere Romane für Erwachsene veröffentlicht. In seiner Prosa für Erwachsene stellt er Verbindungen her zwischen historischen Themen und der Gegenwart.

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