Wird die Akte wieder geöffnet? Bisher unbekannte Dokumente zum Tod von Jan Masaryk
Dass der Tod von Jan Masaryk jemals zweifelsfrei aufgeklärt wird, ist eher unwahrscheinlich. Und dass auch nach mehreren Ermittlungsverfahren die Akten bisher immer wieder ergebnislos geschlossen wurden, lässt das öffentliche Interesse an dem Fall nicht schwinden. Denn Masaryk war der letzte demokratische Außenminister der Tschechoslowakei. Das Land befand sich gerade im Umbruch zu einem kommunistischen Regime, als seine Leiche am 10. März 1948 im Hof seiner Arbeits- und Wohnstätte gefunden wurde. Masaryk war aus dem Fenster gestürzt – und bis heute ist unklar, ob freiwillig, ungewollt oder durch Fremdeinwirkung. Dem jetzigen tschechischen Außenminister, Jan Lipavský (Piraten), ist es gelungen, neue Archivmaterialien aus dem Ausland nach Prag überstellen zu lassen.
Noch hat die Dokumente kaum jemand in Tschechien zu Gesicht bekommen. Dennoch weiß die Öffentlichkeit inzwischen schon so viel, dass darin die Rede ist von dem Besuch dreier Männer bei Jan Masaryk, nur wenige Stunden vor dessen tragischem Tod. Jan Horák, Redakteur bei dem Nachrichtenportal Aktualne.cz, kann darüber exklusiv berichten. Denn er habe, so Horák in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks, Kontakt zu jenem Beamten im tschechischen Außenministerium, der für die neu eingetroffenen Archivalien zuständig ist, und dadurch Einsicht erhalten.
Diese Papiere stammen aus mehreren diplomatischen Archiven. Horák berichtet zunächst, wie sie nach Prag gelangt sind:
„Der Fairness halber muss erwähnt werden, dass am Anfang der derzeitige Vorsitzende des Sicherheitsausschusses im Abgeordnetenhaus, Pavel Žáček, stand. Er ist Historiker von Beruf und war der erste Leiter des Instituts für das Studium totalitärer Regime. Er hat seit vielen Jahren Interesse an jeglichen Dokumenten, die Licht in den Todesfall Jan Masaryk bringen könnten. Wie er mir sagte, hat er bereits mit mehreren tschechischen Außenministern darüber gesprochen, dass man durch eine Anfrage bei unseren ausländischen Verbündeten herausfinden könnte, ob sie entsprechende Dokumente haben. Weiter berichtete er mir, dass der erste Minister, bei dem er mit diesem Vorschlag Erfolg hatte, Jan Lipavský von den Piraten war.“
Lipavský ist der derzeitige Ressortleiter im Czernin-Palais, dem Sitz des Außenministeriums in Prag. Er habe, so Horák weiter, über die tschechischen Vertretungen in Großbritannien, den USA und Frankreich den Antrag gestellt, in den Archiven nach Hinweisen zum Tod seines Vorgängers Masaryk zu suchen.
Und dort ist man fündig geworden. Von britischer Seite übergab Matt Field, der Botschafter in Prag, die Dokumente sogar persönlich. Die interessantesten Informationen scheinen allerdings die US-amerikanischen Akten zu enthalten, wie Horáks weitere Ausführungen vermuten lassen:
„Für mich ist die wichtigste Zeugenaussage – und so sieht es auch meine Kontaktperson, die mir Zugang verschafft hat – in einer Depesche zu finden von einem Angehörigen des amerikanischen Militärgeheimdienstes, der in Prag arbeitete. Er schickte das Schriftstück an seinen Befehlshaber, der für Europa zuständig war. Die Depesche übermittelt eine Zeugenaussage, die eine Quelle dieses Mitarbeiters aufgenommen hatte. Diese Quelle soll demnach mit Bohumil Příhoda gesprochen haben.“
Dieser Name ist in den Ermittlungen zu Masaryks Tod nicht unbekannt, handelt es sich doch um den Kammerdiener. Schon in den 1920er Jahren habe Příhoda für die Familie gearbeitet, erläutert Horák, damals noch unter dem Vater und ersten tschechoslowakischen Präsidenten, Tomáš Garrigue Masaryk. Seit dessen Sohn Jan 1940 den Posten als Außenminister in der tschechoslowakischen Exilregierung von Edvard Beneš übernommen hatte, sei Příhoda dessen vertrauter Mitarbeiter gewesen. Und laut den neu gefundenen Dokumenten habe der Bedienstete über die Ereignisse am 9. März 1948 folgendes ausgesagt:
„Er erzählte dem Agenten die Geschichte, wie am Vorabend seines Todes gegen 21 oder 22 Uhr drei Männer bei Masaryk zu Besuch waren, mit denen er einen heftigen Streit hatte. Einige Worte, die Příhoda demnach gehört haben will, war Masaryks wiederholter Ausruf: ‚Das unterschreibe ich Ihnen nicht! Sie können alles Mögliche von mir wollen, aber das geht nicht! Dies passiert nur über meine Leiche!‘“
Rätselhafter Besuch dreier Männer
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Bisher war bekannt, dass Příhoda dem Minister am späten Abend noch einen Kaffee gebracht hat. Ziehe man die These von Masaryks Selbstmord in Betracht, lenkt Redakteur Horák ein, könnte der Kammerdiener der Letzte gewesen sein, der Masaryk lebend gesehen hat. Die nun aufgetauchten Indizien über den späten und unangenehmen Besuch dürften wohl aber die Mordthese befeuern. Příhoda jedenfalls will laut historischer Depesche den Streit von seiner Wohnung aus gehört haben, die im Czernin-Palais genau über der von Jan Masaryk lag.
Horák fährt fort, dass sich in den besagten Akten keine Angaben darüber fänden, um was für ein Dokument es bei dem Streit ging, das Masaryk hätte unterschreiben sollen. Man könne vermuten, dass es der Mitgliedsantrag für die Kommunistische Partei gewesen sei, sagt der Redakteur. Bei diesem Rätsel würde eventuell helfen, die Identität der Besucher zu kennen. Aber auch hier Fehlanzeige: Die Archivalien würden weder Namen noch Nationalität preisgeben, so Horák:
„In den Gesprächen mit dem Beamten des Außenministeriums präsentierte er mir folgende Theorie: Hinsichtlich dessen, dass Masaryk die Männer auf Tschechisch angeschrien haben soll, muss mindestens einer der Drei ein Tscheche gewesen sein. Příhodas Aussage zufolge hat er Masaryk und den Männern vier Kaffee gebracht und die Personen gesehen. Seinem Kontaktmann beim US-amerikanischen Nachrichtendienst soll Příhoda dann mitgeteilt haben, dass er die Besucher nicht kannte. Falls es also Tschechen waren, dann konnte es niemand aus dem Umfeld von Jan Masaryk oder dem Außenministerium sein. Wichtig ist dabei eines: Wir arbeiten hier mit einer Zeugenaussage, die ich zwar nicht als Spekulation bezeichnen will, die aber eher auf Vermutungen beruht und die mehrfach weitervermittelt wurde. Wir können nicht sicher sein, dass sich alles tatsächlich so abgespielt hat.“
Die Aussage Příhodas solle aber vom 12. März 1948 stammen – also zwei Tage, nachdem Masaryks Leiche im Hof des Czernin-Palais gefunden worden war. Damit handle es sich um einen recht frischen Zeugenbericht, urteilt Horák.
Widersprüchliche Aussagen
Nun ist der Hinweis auf einen rätselhaften Besuch bei Masaryk am Vorabend seines Todes nicht wirklich ganz neu. Auch die Behörde zur Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus (ÚDV) zog schon vor Jahren ein solches Ereignis in Erwägung. Seit 1993 arbeitete sie den Fall auf, schloss die Nachforschungen aber Anfang 2004 ohne konkretes Ergebnis ab. Damals sprach der stellvertretende Leiter der Behörde, Pavel Bret, gegenüber Radio Prag International davon, dass sich in jener Nacht bis zu fünf ungebetene Besucher in Masaryks Wohnung aufgehalten haben könnten.
Offenbar wurde dieser Vermutung aber bisher nicht viel Bedeutung beigemessen. So beurteilt der Historiker Jiří Kocián vom Institut für Zeitgeschichte an der tschechischen Akademie der Wissenschaften die nun aufgetauchten Archivmaterialien wie folgt:
„Dies ist eine neue Information. Bisher wurde in der Literatur vor allen mit einem Narrativ gearbeitet, nach dem Příhoda Masaryk Kaffee gebracht habe, sich für den Tag verabschiedete und noch besprochen habe, was am Morgen anliegt. Mit dem Programm für den nächsten Tag trennten sich beide, und das ist das Ende, das ich kenne.“
Die Aussagen und Auslegungen, die in den mehr als 76 Jahren seit dem Ereignis gesammelt und getätigt wurden, würden sich teils stark unterscheiden, ergänzt Kocián und merkt an, dass einige Zeugenberichte noch zehn oder zwanzig Jahre nach dem Tod Masaryks entstanden seien. Die nun aufgetauchte Darstellung von Bohumil Příhoda müsse nun aber auch für Analysen hinzugezogen und dürfe nicht unterschätzt werden, so der Historiker.
Könnten dann noch die drei Besucher identifiziert werden, von denen in den Archivmaterialien die Rede ist, dann wäre man in der Aufarbeitung von Masaryks Tod schon einen Schritt weiter, urteilt Kocián. Die letzten Tage des Außenministers und seine persönlichen Kontakte seien bis auf die Nacht vor seinem Ableben bereits detailliert erforscht:
„In diesen Tagen nahm Masaryk an Verhandlungen des Präsidenten Beneš mit dem polnischen Botschafter teil sowie an Paraden der Volksmilizen. Er hat es auch noch geschafft, am 7. März das Grab seines Vaters zu besuchen. Zudem hatte er Arbeitsberatungen. Wie bekannt ist, sollte er sich am Abend des 10. März mit einem hohen Beamten seines Ministeriums namens Kavan treffen und danach mit seinen Geheimsekretären. Auch in dieser schwierigen Situation arbeitete Masaryk also im Rahmen des normalen Ministeriumsbetriebs.“
All das sei für Jan Masaryk sehr anstrengend gewesen, fügt Kocián hinzu. Und das nicht nur, weil der Minister krank gewesen sei. Vor allem habe ihn die Enttäuschung einiger Freunde im In- und Ausland belastet, mit der sie auf Masaryks Entscheidung reagierten, sein Amt weiter auszuführen. Am 25. Februar 1948 war es nämlich bei den Wahlen in der bis dahin noch demokratischen Tschechoslowakei zur Machtübernahme durch die Kommunistische Partei gekommen. Dafür, dass Masaryk auch in der neuen Regierung mitarbeitete, bekam er offenbar viel Kritik auch persönlicher Art. Dies wird häufig als Indiz herangezogen, dass der Minister am 10. März doch Selbstmord begangen haben könnte. Weiter legt Kocián dar:
„Sicher waren diese Tage für ihn schwer. Denn auch im Ministerium liefen damals schon die ersten Säuberungen, und diese berührten Masaryk schmerzhaft. Er sah, wie eine Reihe von Menschen, die er kannte und denen er vertraute, verfolgt und belastet wurde. Dies alles hat vielleicht zu seiner Stimmung beigetragen. Wie einige Zeitzeugen berichten, war Masaryk Anfang März nicht besonders optimistisch eingestellt.“
Selbstmord, Unfall oder Mord?
Selbstmord war auch die Erklärung, mit der die Staatsführung noch am Vormittag des 10. März 1948 die Öffentlichkeit vom Tod Jan Masaryks unterrichtete. Spätere Erkenntnisse, dass die Beweisaufnahme vor Ort schlampig gelaufen war, dass die Leiche dabei vermutlich bewegt und somit ihre eigentliche Liegeposition unkenntlich gemacht wurde, ein angeblicher Abschiedsbrief an Stalin oder die Richtigstellung eines beteiligten Polizeibeamten zu den Anfangsermittlungen – all das war Anlass für insgesamt schon fünf Ermittlungsverfahren, ob es sich um einen Selbstmord, einen Unfall oder einen Mord gehandelt habe. Die bisher letzten Untersuchungen wurden kurz vor dem Jahrestag 2021 ergebnislos eingestellt.
Sowohl Journalist Jan Horák als auch Historiker Jiří Kocián halten es aber für möglich, dass die Akte angesichts der neu aufgetauchten historischen Dokumente wieder geöffnet werden könnte. Der Fall hätte es verdient, dass ihm weiterhin Aufmerksamkeit geschenkt würde, meint Kocián. Wie alle, die sich damit beschäftigen, vermutet auch er noch aufschlussreichere Beweismaterialien in den russischen Archiven…
„Wir gehen immer noch davon aus, dass das so ist. Vor vielen Jahren hatten wir die Möglichkeit zu einem Austauschaufenthalt unter Wissenschaftlern. Dabei haben wir versucht, in die zentralen Moskauer und ehemaligen sowjetischen Archive zu kommen. Aber die Ablehnung und Verweigerung waren bereits damals, als die Erforschung einiger Dokumente immerhin schon möglich war, eindeutig.“
Aber nun sei das neue Material in Prag eingetroffen, das von Historikern und auch von der Behörde zur Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus gesichtet werden müsse, betont Jan Horák:
„Aktuell werden die Dokumente von besagtem Beamten des Außenministeriums durchgesehen und geordnet. Soweit ich weiß, passiert dies gerade. Es wird angenommen, dass die Akten noch im September ins Ministeriumsarchiv aufgenommen werden, das öffentlich zugänglich ist. Ich würde erwarten, dass auch diese Dokumente im Verlaufe des Herbstes zugänglich gemacht werden. Und ich kann mir vorstellen, dass sich viele Historiker dann darauf stürzen und die Dokumente mit Neugier und Freude studieren.“