Der Fall Jan Masaryk
Seit 56 Jahren beschäftigt der Tod des damaligen Außenministers Jan Masaryk die Gemüter der Tschechen. Im nun folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte stellt Ihnen Katrin Bock diesen noch immer ungelösten komplizierten Kriminalfall aus dem Jahre 1948 vor.
Wie löst man heute einen Kriminalfall, der sich vor über 50 Jahren ereignet hat? Einen Fall, der umso komplizierter ist, da das Opfer einer der beliebtesten Politiker jener Zeit war und die politischen Entwicklungen eine große Rolle spielten. Der aus dem westlichen Exil zurückgekehrte Jan Masaryk galt nach Kriegsende als einer der Garanten der demokratischen Werte. Als die Kommunisten Ende Februar 1948 die Macht im Lande übernahmen, betrachteten viele Tschechen die Tatsache, dass Masaryk Junior in der neuen, kommunistischen Regierung Außenminister blieb, mit Bedenken, aber auch mit Entsetzen. Legitimierte er dadurch nicht den kommunistischen Staatsputsch? Oder war dies seine Art, die neue, undemokratische Regierung zu unterwandern? Diese Fragen werden wohl für immer unbeantwortet bleiben, denn zwei Wochen später war Jan Masaryk tot. Selbstmord oder Mord? Die Mehrheit der Bevölkerung war damals überzeugt, dass der beliebte Politiker von den Kommunisten aus dem Weg geräumt worden war. Die offizielle Version lautete allerdings Selbstmord aus Verzweiflung über die Kritik seiner Freunde an seiner Regierungsbeteiligung. Auf welches Material stützen sich die heutigen Untersuchungen dieses Todesfalls? Dies fragte ich Dr. Pavel Bret:
"Leider existieren nur wenige Fakten. Damals wurde nur die Version des Selbstmordes untersucht, so dass auf einige grundlegende Vorgehensweisen der Kriminalistik verzichtet wurde, die damals einiges hätten klären können. Eine ganze Reihe von Personen, die etwas aussagen hätten können, wurde überhaupt nicht verhört. Die Spurensicherung verlief nur halbherzig, Fingerabdrücke wurden nicht untersucht und später sogar vernichtet."
Die Kriminalpolizei hatte nur eine halbe Stunde Zeit, Spuren zu sichern, dann übernahm die Staatssicherheit den Fall und verwischte mögliches Beweismaterial. Im Badezimmer sollen Kampfspuren zu sehen gewesen sein: Glassplitter und Rasierklingen auf dem Boden, ein Kopfkissen in der Badewanne. Es wird vermutet, dass sich bis zu fünf ungebetene Besucher in jener Nacht in der Wohnung des Außenministers aufgehalten haben. Drei dieser möglichen Täter starben binnen weniger Monate gewaltsame Tode, einer verübte später Selbstmord. Pavel Bret und sein Team mussten bei der Wiederaufnahme des Falles allen Spuren erneut nachgehen.
"Wir haben alle möglichen Personen untersucht, die sich damals in der Nähe von Jan Masaryk bewegt haben. Wir haben einen Zeitplan des letzten Tages von Jan Masaryk aufgestellt, mit wem er sich getroffen hat, worüber gesprochen wurde, wem er sich mit was anvertraut hat. Wir haben versucht, alle Personen, die nach 1948 emigriert sind und etwas über den Fall wissen könnten, zu verhören. Deshalb haben wir auch in ausländischen Archiven nach Material gesucht, denn einige Personen haben im Exil erklärt, sie wissen, wer Jan Masaryk ermordet hat. Das Problem ist, dass inzwischen viele gestorben sind."
Die Behörde hatte den Fall bereits in den 90er Jahren mangels Beweisen ad Acta gelegt, doch im Jahre 2002 wurde er wieder aufgenommen.
"In einer Episode einer Dokumentarserie des tschechischen Fernsehens über tschechoslowakische Geheimdienste hat eine ehemalige Angehörige des russischen NKDV vor der Kamera ausgesagt, dass der russische Geheimdienst in der Tschechoslowakei eigentlich nur einen Erfolg nach Kriegsende gehabt habe: man habe den Außenminister aus dem Fenster geschmissen. Das war für uns ein Impuls, diesen Tatbestand zu untersuchen. Wir haben die russische Seite um Rechtshilfe gebeten, aber nach einiger Zeit wurde uns mitgeteilt, dass besagte Dame, die wir verhören wollten, bereits verstorben ist. Und was Material angeht, das die Beziehung zwischen Jan Masaryk und der Sowjetunion betrifft: sofern überhaupt etwas existiert, so ist es geheim und für uns unzugänglich."
Mord oder Selbstmord? Bei der Untersuchung eines Kriminalfalls spielt stets das Motiv eine Rolle.
"Es gibt sowohl für Mord als auch Selbstmord genügend Motive. Man muss die historischen Zusammenhänge beachten. Jan Masaryk galt einfach als Garant der Demokratie und der Politik seines Vaters. Für die Kommunisten war es wichtig, dass er in ihrer Regierung war. Natürlich befürchteten sie, dass er ins Exil gehen könnte - das hätte die Entwicklung in der Tschechoslowakei sehr beeinflussen können. Andererseits muss man auch die Lage von Jan Masaryk beachten. Westliche Diplomaten sollen ihm seine Beteiligung in der kommunistischen Regierung vorgeworfen und ihn als Verräter abgestempelt haben. Man muss sich vorstellen, was für eine Last auf den Schultern dieses Mannes lag: zum einen das Gefühl, die Politik des übermächtigen Vaters fortsetzen zu müssen, dann aber auch das Gefühl der Frustration. Man muss seine psychische Konstellation beachten - bereits zuvor litt Masaryk an Depressionen, war in psychiatrischer Behandlung gewesen. Vielleicht sah Masaryk eine Chance darin, sein Land demonstrativ zu verlassen und die Kommunisten waren einer Emigration zuvorgekommen."Enge Mitarbeiter von Jan Masaryk waren damals und sind noch heute überzeugt, dass Masaryk Selbstmord begangen hat, um so dem Westen das wahre Gesicht der Veränderungen in der Tschechoslowakei zu zeigen. Aber wäre eine Emigration nicht wirkungsvoller gewesen oder wenigstens das Hinterlassen eines Abschiedsbriefes? Springt jemand aus dem Fenster, der bereits seinen Schlafanzug anhat? Was hat sich in der Nacht vom 9. zum 10. März 1948 in der Wohnung des Außenministers im Cerninpalast wirklich ereignet?
Aufgrund einer 2002 angefertigten Expertise, der zufolge die Lage des Körpers und die Verletzungen darauf hinweisen, dass Jan Masaryk mit Gewalt aus dem Fenster gestoßen worden ist, und aufgrund der nicht überprüften Aussage jener russischen Geheimdienstagentin geht die Untersuchungsbehörde inzwischen davon aus, dass Jan Masaryk nicht freiwillig aus dem Leben geschieden ist. Welche Meinung vertritt Pavel Bret persönlich?
"Mit Rücksicht auf all das, was ich untersucht und studiert habe, kann ich inzwischen eigentlich nur sagen, dass, je mehr ich über den Fall weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nichts weiß. Es ist einfach kompliziert. Als Polizist können Sie keine Vermutungen veröffentlichen, Sie brauchen Fakten. Als Polizist müssen Sie genug Beweise haben, um eine strafrechtliche Verfolgung zu eröffnen, das ist uns nicht gelungen."
Die Frage nach möglichen Tätern und Drahtziehern bleibt also weiterhin offen. Die einzige Hoffnung sieht Pavel Bret darin, dass irgendwann die russischen Archive geöffnet werden. Dann wird sich zeigen, ob zum Fall Masaryk Material existiert. Wenn nicht, so werden die Legenden und Gerüchte weiter blühen.
"Amerika hat seinen Kennedy, Schweden Olaf Palme, Italien Aldo Moro und wir Jan Masaryk, auch wenn man die Fälle natürlich nicht vergleichen kann."